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Todd
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Gottkönig
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Der Löwe von Hattusa Empty Der Löwe von Hattusa

10.09.21 21:50
Das hier wird jetzt ein wenig schamlose Eigenwerbung, aber ich habe jetzt nach mehreren Jahren Arbeit mein Herzendprojekt abgeschlossen und das Buch, an dem ich die ganze Zeit gearbeitet habe veröffentlicht.
Zu finden unter anderem auf Amazon als ebook und Softcover: > hier <

Der Löwe von Hattusa 51nfaIYLWxL._SX327_BO1,204,203,200_

Es ist ein Historischer Roman über den Hethiter König Ḫattušili  I., den Gründervater des Alten Hethitischen Reiches. 
Hauptprotagonist des Buches ist Levi. Aus Levis Sicht ist sein Leben eine einzige Qual. In der Schule wird er täglich von seinen Klassenkameraden gemobbt und seit dem Tod seiner Mutter ist sein Vater hoffnungslos dem Alkohol verfallen.
Doch eines Tages begegnet er einem mysteriösen Fremden, welcher von sich selbst behauptet ein Gott zu sein, und ihm einen ungewöhnlichen Handel anbietet.

Wenig später findet sich Levi im Anatolischen Hochland des 17. Jahrhunderts v. Chr. wieder. Sein zunächst recht beschauliches Leben in einem Tempel endet, als er auf einem seiner Streifzüge  einen bei der Jagd verunglückten jungen Mann namens Labarna rettet.
Labarna entpuppt sich als Kronprinz des Reiches von Kuššara und Levi kann zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen, dass dies der Beginn einer langen und innigen Freundschaft ist, die sein weiteres Leben gründlich auf den Kopf stellen wird...

Labarna, der Nachwelt besser als Ḫattušili I. bekannt, sollte als der Begründer des Hethitischen Großreiches in die Geschichte eingehen. Seine Herrschaft war von inneren und äußeren Konflikten, ebenso wie erbitterten Machtkämpfen innerhalb seiner eigenen Familie geprägt.


Für den Fall das ich jemand von euch dafür interessieren konnte werde ich den Prolog und das Erste Kapitel als Leseprobe beifügen. ;)
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Der Löwe von Hattusa Empty Re: Der Löwe von Hattusa

10.09.21 21:54
Prolog

Das unnachgiebige Klingeln des Weckers riss Levi aus seinen Träumen. Widerwillig öffnete er seine Augen und tastete nach dem Störenfried, um diesen zum Schweigen zu bringen. Mit einem unwilligen Brummen wickelte er sich fester in seine Decke. Es war kalt in seinem Zimmer und Levi verspürte nicht das geringste Bedürfnis, die behagliche Wärme seiner Decke aufzugeben. 
Doch dann gab er sich mit einem leisen Seufzen einen Ruck und kroch unter der Decke hervor. Levi tastete nach dem Lichtschalter, denn draußen war es noch völlig dunkel, und begann sich anzuziehen. Kurz trat er ans Fenster und sah hinunter in den Garten. Die Einfahrt war völlig zugeschneit, in der Nacht hatte es Neuschnee gegeben. Es war Mitte Dezember, noch zwölf Tage bis Weihnachten. Levi hasste die kalte Jahreszeit, wenn es draußen lang dunkel und kalt war...  
Er verließ sein Zimmer und verschwand kurz im Bad. Auch hier war es kalt und entsprechend beeilte er sich. Flüchtig warf er einen Blick in den Spiegel, aus welchem ihm zwei verschlafene blaue Augen entgegensahen. 
Kurz fuhr er sich mit einem Kamm über den Kopf, um sein kurzes braunes Haar etwas in Ordnung zu bringen. Dann griff er nach seiner Zahnbürste und widmete sich mehr recht als schlecht der Zahnpflege. Eilig verließ er das eisige Badezimmer wieder und schlüpfte hinunter ins Wohnzimmer. Vorsichtig öffnete er die Tür und spähte hinein. Zu seiner Erleichterung war sein Vater nirgends zu sehen, denn es kam in letzter Zeit öfters vor, dass er auf dem Sofa einschlief. 
Levi schloss die Tür hinter sich, stieg über einige auf dem Boden verstreut herumliegende leere Flaschen hinweg und ging in die Küche. Das Wohnzimmer mit der angeschlossenen Küche waren die einzigen beiden Räume, welche sie heizten. Weil sie sparen mussten, wie sein Vater sagte. Doch das stimmte nicht. Zwar reichte das Geld vorne und hinten nicht, aber das lag vorrangig daran, dass sein Vater fast jeden Cent, den sie hatten, versoff... 
Das ging seit fast zwei Jahren so. Damals hatte sein Vater und seine Mutter einen Verkehrsunfall gehabt. Sein Vater hatte am Steuer gesessen. Er selbst war nur mit einigen Kratzern davon gekommen, doch seine Mutter war noch auf dem Weg ins Krankenhaus gestorben. 
Levi wusste, dass sein Vater sich die Schuld am Tod seiner Frau gab und dies bis heute nicht verwunden hatte. Das Verhältnis zwischen Vater und Sohn hatte sich seither beständig abgekühlt. Sein alter Herr war jähzornig und unberechenbar geworden. Besonders, wenn er betrunken war, war man gut beraten ihm aus dem Weg zu gehen. Und das war er immer öfter... Vor einem Monat hatte er nun auch noch seinen Job verloren. Levi dachte lieber gar nicht darüber nach, wie es mit ihnen weiter gehen sollte. Und dabei hatte er doch auch noch genug andere Sorgen...
Levi wischte den Gedanken mit einem leisen Seufzen beiseite und inspizierte den Kühlschrank. Erwartungs-gemäß gab dieser nicht viel her. Eilig belegte er sich eine Scheibe Brot mit dem restlichen Käse, welchen er in der hintersten Ecke des Kühlschrankes aufstöberte und verstaute diese in seinem Schulranzen. 

Levi lehnte sich gegen den Heizkörper am Fenster und sah hinaus in den verschneiten Garten. Er musste bald aufbrechen, doch wie vorhin im Bett verspürte er keinerlei Bedürfnis, die wohlige Wärme aufzugeben, welche der Heizkörper verströmte. Außerdem hatte er nicht die geringste Lust zur Schule zu gehen. 
Es lag nicht daran, dass ihm das Lernen schwerfiel. Viel mehr waren es seine Mitschüler. Schon seit der Grundschule ging es so. Er war schon immer der Außen-seiter gewesen, was vermutlich unter anderem daran lag, dass seine Interessen sich überhaupt nicht mit denen seiner Klassenkameraden deckten. Er war weder sonder-lich sportlich, noch interessierte er sich in irgendeiner Weise für Sport, besonders nicht für Fußball, was ein beliebtes Gesprächsthema bei den Jungen in seiner Klasse war. Mit den anderen Dingen ging es ihm genau-so. Er hatte kein großes Interesse an Technik, Autos oder Filmen und Serien, welche in seiner Klasse angesagt waren. Stattdessen zog er sich lieber in seiner Freizeit in sein Zimmer zurück um zu lesen. 
Levi hatte auch nicht viele Freunde. Es störte ihn auch nicht allein zu sein. Er wusste, dass er mit den anderen nicht sonderlich gut zurecht kam und zog es lieber vor, seine Ruhe zu haben. Eigentlich wollte er nur in Frieden gelassen werden und ging den anderen deshalb so gut wie möglich aus dem Weg. Nur funktionierte das nicht. Immer wieder wurde er zur Zielscheibe. Levi wusste, dass er leicht reizbar war, dass er rasch die Kontrolle verlor, wenn man ihn ärgerte und umso mehr Spaß machte es seinen Peinigern ihn heimzusuchen. 
Bei diesem Gedanken ballte Levi unwillkürlich seine rechte Hand zur Faust und spürte, wie der Hass in ihm empor zu lodern drohte. Es fühlte sich an wie ein heißer Knoten in seinem Bauch. Allein der Gedanke reichte schon, dass er es wieder satt hatte. Am liebsten wäre er einfach zuhause geblieben und hätte sich mit seinen Büchern in seinem Zimmer eingeschlossen. Aber er wusste nur zu gut wie sein Vater reagieren würde, wenn er es wagte, den Unterricht zu schwänzen...
Levi atmete tief ein und schloss einen Moment seine Augen. Dann stieß er sich vom Heizkörper ab, schnappte sich seinen Ranzen und machte sich auf den Weg zur Schule. Wenn er zu spät käme, hätte er nur noch mehr Scherereien.

* * *

Kurz vor Beginn des Unterrichts erreichte Levi die Schule. Er achtete stets sorgfältig darauf, nicht zu früh da zu sein. Je kürzer er mit seinen Mitschülern allein war, desto besser. Möglichst unauffällig schlüpfte er ins Klas-senzimmer und begab sich an seinen Platz. Er saß allein in der ersten Reihe direkt vor dem Lehrerpult. Das bot während des Unterrichtes seiner Erfahrung nach den besten Schutz vor Übergriffen gelangweilter Klassen-kameraden. 
Levi nahm Platz und begann seine Sachen auszu-packen. Bisher schien ihn niemand zu beachten, das konnte ihm nur Recht sein. Seine Klassenkameraden saßen in Gruppen an oder auf den Tischen und plauderten miteinander. 
In den ersten beiden Stunden hatten sie an diesem Morgen Musik. Levi mochte das Fach nicht, denn er war nicht sonderlich musikalisch und ihr Musiklehrer, Herr Reuter, hatte wenig für musikalisch unbegabte Schüler übrig und zeigte das auch nur allzugern. Besonders Levi ließ er dies des öfteren spüren. Und jedes mal verfluchte Levi diesen in Gedanken, wenn er ihn dadurch in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit seiner Klassen-kameraden rückte. Entsprechend hatte Levi auch nicht das Geringste für seinen Musiklehrer übrig. Um genau zu sein, hielt er ihn für eines der größten Arschlöcher, welchem er bisher begegnet war. Und dies war noch einer der vergleichsweise harmlosen Begriffe, welche Levi wohl gebraucht hätte, um seinen Musiklehrer zu beschreiben.
Levi hörte hinter sich ein gehässiges Gekicher und instinktiv wusste er, dass dieses ihm galt. Stoisch starrte er auf die Tür des Klassenzimmers und hoffte, dass Herr Reuter endlich hereinkommen würde. Auch wenn er den Lehrer alles andere als mochte, so wäre er dann wenigstens vor seinen Klassenkameraden sicher. 
Doch noch während ihn diese Gedanken bewegten, traf ihn von hinten etwas am Kopf. Levi versuchte so zu tun, als hätte er es nicht gemerkt. Eine weitere Papierkugel traf seinen Rücken. Levi drückte die Lippen zusammen und starrte stur geradeaus. Er hatte es satt. Immer wieder dasselbe. Jeden Tag aufs neue. Er wusste aus Erfahrung nur zu gut, dass Ignorieren nichts brachte. Sie würden weiter machen. Sie würden ihn immer gezielter drangsalieren, wie sie es immer taten und wenn sie jetzt schon anfiengen, würde er es wohl den ganzen Tag bis zum Ende des Unterrichts ertragen müssen, tagein und tagaus dasselbe. Das hatte er so gründlich satt. Er wollte doch nur seine Ruhe haben! 
Ruckartig wandte er sich herum, als ihn ein weiteres Geschoss im Nacken traf. Sein Blick traf sich mit Martin, welcher zwei Bänke hinter ihm saß und ihn mit einem unschuldigen Grinsen ansah. Martin war ein Jahr älter als der Rest seiner Mitschüler, weil er die sechste Klasse hatte wiederholen müssen. Diesem Umstand hatte Levi es zu verdanken, dass er Martins Launen seit vier Jahren ausgesetzt war. Rechts und links neben Martin saßen dessen beide Komplizen Justin und Tom, beide kein bisschen besser als Erstgenannter, und sie taten alles, was ihnen dieser sagte. Es waren eben jene drei, welche Levi das Leben am meisten zur Hölle machten. 
„Lasst mich in Frieden“, stieß Levi hervor und in seiner Stimme schwang unüberhörbar seine bereits wieder hochkochende Wut mit.
„Aber wir machen doch gar nichts“, erwiderte Martin mit einer aufgesetzten Unschuldsmiene. 
„Genau“, pflichtete Tom grinsend bei und nahm dabei, seine Worte Lüge strafend, die Papierkugel aus seinem Mund, welche er zurecht gekaut hatte. Ehe Levi ausweichen konnte, landete diese bereits auf seiner Stirn und fiel anschließend zu Boden. Tom grinste noch immer. Wie er dieses Grinsen hasste. Unwillkürlich kochte in Levi das Bedürfnis empor, Tom dieses Grinsen ein für allemal aus dem Gesicht zu prügeln. 
Doch er wusste, dass es aussichtslos war. Tom war um einiges stärker als er und selbst dann wäre er allein gegen drei gewesen. Ein hoffnungslos ungleicher Kampf, bei dem er nur den kürzeren ziehen konnte. Dennoch konnte Levi seinen Ärger nicht einfach herunterschlucken. Ohne wirklich darüber nachzudenken, griff er hinter sich nach dem erstbesten Gegenstand, welchen er zu fassen bekam. Es war die Blechbüchse, in welcher Herr Reuter seine Kreide aufbewahrte, doch das registrierte Levi in seinem Zorn höchstens am Rande. Noch ehe er wirklich darüber nachdenken konnte, hatte er die Büchse bereits nach Tom geschleudert. 
Allerdings fand das Geschoss nicht sein Ziel. Scheinbar mühelos und mit einem sich weiter verbreiternden Grinsen wich Tom dem Geschoss aus, was Levis Zorn nur  noch steigerte, während die Dose auf dem Boden aufschlug, sich dabei öffnete und ihren Inhalt auf dem Boden verstreute. Doch in diesem Moment vernahm Levi hinter sich eine unheilschwangere ärger-liche Stimme:
„Levi! Was fällt dir eigentlich ein?“
Der Angesprochene erstarrte und drehte sich ruckartig herum. Hinter ihm hatte soeben Herr Reuter den Raum betreten und seine finstere Mine verhieß nichts gutes.
„Ich... also... Tom hat schon wieder...“, stammelte Levi und bekam in seiner Not keinen sinnvollen Satz zustande, während sein Kopf hochrot anlief. Jetzt hatte er sich wieder in eine tolle Situation manövriert. Dabei wollte er doch einfach nur in Ruhe gelassen werden. Das Glück schien einfach nie auf seiner Seite zu sein.
„Du bist wohl von allen guten Geistern verlassen? Sammle das hier sofort wieder ein und ich hoffe für dich, dass nicht alle zerbrochen sind. Das hat auf jeden Fall noch ein Nachspiel“, schnauzte ihn Herr Reuter an. Es war ihm anzusehen, dass er nicht wirklich an einer Erklärung für Levis Verhalten interessiert war. Mit eingezogenem Kopf stand Levi auf und begann unter den höhnischen Blicken seiner Mobber die Kreidestücke aufzusammeln. Natürlich waren fast alle bei dem Aufprall auf dem Boden in kleinere Stücke zerbrochen, was Herr Reuter nicht gerade gnädiger stimmte.
Schweigend und mit gesenktem Blick legte Levi die Kreidedose auf das Lehrerpult und setze sich auf seinen Platz. Immerhin hatte er jetzt bis zur Pause vor Martin und den anderen Ruhe. In Herrn Reuters strengem Unterricht wagten sie es für gewöhnlich nicht ihn zu behelligen, um nicht ihrerseits dessen Unmut auf sich zu lenken.

Herr Reuter begann den Unterricht und wies sie an, ihr Lehrbuch an einer bestimmten Stelle aufzuschlagen. Levi griff nach dem Buch und blätterte lustlos darin herum, während er seinen trüben Gedanken nachhing. Er wollte nach Hause, weg von der Schule und seinen Mitschülern. Er war so in seine Gedanken versunken, dass er schon längst nicht mehr auf die Worte seines Lehrers achtete. Stattdessen starrte er stoisch eine Seite in seinem Lehrbuch an, nicht einmal sicher, ob es überhaupt die richtige war, denn so genau hatte er vorhin nicht zugehört.
„Levi, du bist einfach ein hoffnungsloser Fall.“
Die schneidenden Worte seines Lehrers sorgten dafür, dass Levi in die Realität zurückkehrte.
„Seite achtundachtzig habe ich gesagt.“
„Entschuldigung“, murmelte Levi und schlug eilig die richtige Seite auf. 
„Du denkst wohl, du kannst dir alles erlauben?“
Es war unverkennbar, dass sein Lehrer heute nicht sonderlich viel Geduld hatte und Levi ahnte bereits Schlimmes. Wenn man sich einmal seinen Unmut zugezogen hatte, nahm dies selten ein gutes Ende. Herr Reuter schien stets eine passende Gehässigkeit parat zu haben. 
„Wenn dich mein Unterricht so sehr langweilt, dann solltest du dich etwas aktiver daran beteiligen“, fuhr Herr Reuter fort und Levi meinte ein böses Funkeln in dessen Augen erkennen zu können. Ihm schwante nichts Gutes. 
„Warum singst du uns nicht etwas vor? Seite siebenundachtzig.“
Levi kniff die Lippen zusammen und starrte Herrn Reuter einen Augenblick lang an. Dieser wusste ganz genau, dass Levi nicht sonderlich gut singen konnte, eher das Gegenteil, und er tat es nur, damit er sich vor der ganzen Klasse blamierte. 
„Los, komm nach vorn!“, ordnete ihr Lehrer an. Levi erhob sich zögerlich und ging nach vorn, wobei er eine Seite zurückblätterte. Sorgfältig vermied er es, seine Klassenkameraden anzusehen und starrte lieber auf das Buch in seinen Händen. Stumm starrte er auf die Seite hinab. Sie hatten das Lied in den letzten Stunden gesungen, doch wusste er genau, dass er seinen Lehrer niemals würde zufriedenstellen können. 
„Worauf wartest du? Wir haben nicht den ganzen Morgen Zeit!“, vernahm er Herrn Reuters Stimme neben sich. Mit einem stummen Seufzen ergab sich Levi in sein Schicksal und tat, was von ihm verlangt wurde, aber nicht ohne dabei seinen Musiklehrer zu verfluchen und alles nur erdenkliche Übel auf ihn herab zu wünschen.
Nachdem er geendet hatte, starrte er nach wie vor unverwandt auf das Buch in seinen Händen. 
„Keinerlei Gefühl für Rhythmus und Melodie“, schnarrte sein Lehrer geringschätzig, schüttelte dabei leicht den Kopf  und fügte mit einem spöttischen Unterton hinzu: 
„Du singst so schief und krumm. Ich denke, das kann ich deinen Klassenkameraden nicht noch einmal antun. Setz dich!“
Herrn Reuters Worte riefen bei der Klasse ein spöttisches Lachen hervor. Levi versuchte, es so gut wie möglich zu ignorieren und kehrte eilig an seinen Platz zurück. Kaum, dass er sich gesetzt hatte, traf ihn eine Papierkugel im Rücken und es blieb nicht die einzige. Herr Reuter bekam davon nichts mit oder er ignorierte es geflissentlich, während er mit seinem Unterricht fortfuhr. Er machte dabei einen ausgesprochen zufriedenen Eindruck.

* * *

Levi war froh, als der Musikunterricht endlich vorüber war. Doch Martin und seine beiden Anhängsel schienen es heute wieder einmal besonders auf ihn abgesehen zu haben. Es kostete ihn eine Menge Selbstbeherrschung, all das herunterzuschlucken. Doch wenn er sich wehrte, würde es nur schlimmer werden. So langsam war für ihn das Maß trotzdem voll. Er hatte keine Lust, all das auf sich sitzen zu lassen.
Um weiterem Ärger aus dem Weg zu gehen, schlüpfte er direkt nachdem es zur großen Pause geklingelt hatte aus dem Zimmer und sah zu, dass er wegkam. Ziellos verließ er das Schuldgebäude und suchte sich auf dem Schuldgelände ein ruhiges abgelegenes Plätzchen, wo er etwas Ruhe hatte. Auch wenn es draußen kalt war, so war es doch allemal besser als das, was ihn im warmen Klassenzimmer erwartete hätte. Er mied den Schulhof und lenkte seine Schritte in Richtung der Turnhalle auf der anderen Seite des Geländes. Dort würde er höchstwahrscheinlich allein und ungestört sein. 
Fröstelnd hüllte er sich fester in seine Jacke, während er auf dem Platz vor der Turnhalle auf und abging. Rechts und links des Platzes türmten sich hohe Schneehaufen auf. In den letzten Tagen hatte es wirklich stark geschneit. Noch zwei Stunden, dann konnte er endlich nach Hause gehen. Mit auf dem Boden gerichteten Blick setze er seine Wanderung auf dem Platz fort. 
„Was machst du den ganz allein hier draußen?“
Ein säuselnde Stimme riss Levi aus seinen Gedanken. Er erkannte sie sofort. Levi unterdrückte ein Seufzen. Martin und die beiden anderen hatten ihn gefunden. Er war wohl nicht schnell genug gewesen oder sie hatten geahnt, was sein Ziel gewesen war. Levi antwortete nicht, sondern erwiderte nur unverwandt ihren Blick. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, hierher zu kommen. Hier war er mit ihnen ganz allein.
Martin war näher gekommen, blieb direkt vor ihm stehen und sah ihn lauernd an. Levi war mit seinen ein Meter fünfundsiebzig nicht sonderlich klein, dennoch überragte ihn Martin, sodass er zu ihm aufsehen musste. Levi wich unbehaglich ein paar Schritte zurück, während er überlegte, wie er sich am besten aus dieser misslichen Lage befreien könnte. Martin, welcher rechts und links von Justin und Tom flankiert wurde, folgte ihm. Levi erkannte, dass er kaum eine Möglichkeit hatte, sich an ihnen vorbeizudrücken. Mittlerweile war er am Rande des Platzes angelangt und hinter Levi versperrte einer der Schneehaufen den Weg. 
„Pass auf, dass du dir hier draußen keine Erkältung holst!“, fuhr Martin mit einem leichten Grinsen fort. Ehe Levi reagieren konnte, hatte ihm Martin einen kräftigen Schubs verpasst, welcher Levi mit Schwung in den Schneehaufen hinter sich beförderte.
„Oh, entschuldige, das tut mir leid. Was bist du aber auch so ungeschickt und stolperst über deine eigenen Füße.“
Mit einem höhnischen Funkeln in den Augen sahen die drei zu ihm hinunter. Einen Moment verharrte Levi reglos, ehe er sich langsam wieder aufrichtete. In seinem Gesicht arbeitete es. Einen Moment zögerte er noch, dann schnellte er nach vorn und schlug Martin ins Gesicht. Der Angriff war so plötzlich gekommen, dass dieser nicht wirklich darauf vorbereitet gewesen war. Er wich einen Schritt zurück, während ein zorniges Funkeln in seine Augen trat. Ehe Levi nachsetzen konnte stürzten sich bereits Tom und Justin auf ihn.

Es war von Anfang an ein ungleicher Kampf und Levi war sich dessen bewusst. Doch es war einer jener Momente, wo sich sein Verstand verabschiedete und er sich einzig von seinen angestauten Emotionen leiten ließ. Nach einem kurzen Gerangel ging Levi zu Boden. Dann kam bereits der erste Tritt, welcher Levi direkt in die Magengegend traf. Es tat höllisch weh und er spürte, wie ihm die Tränen in die Augen schossen. Er wollte schreien, doch seiner Kehle entwich kein einziger Ton. Ein weiterer Tritt folgte und traf diesmal seinen Arm. Wie ein Blitz durchfuhr der Schmerz seinen Körper, während er das Lachen seiner Peiniger vernahm.
Um sich zu schützen, rollte sich Levi zu einer Kugel zusammen und legte die Arme über den Kopf. Weitere Tritte prasselten auf ihn ein, doch dann schienen sie genug zu haben.
„Ich hoffe, jetzt weist du wieder, wo dein Platz auf der Welt ist, Abschaum!“, knurrte Martin und verpasst ihm einen letzten Tritt in die Leistengegend, dann wandte er sich ab und ging davon. Hämisch lachend gingen die drei davon, während Levi zusammengekauert am Boden liegen blieb und darauf wartete, dass der Schmerz ein wenig nachließ.
„Ich hoffe ihr verreckt alle jämmerlich...“, murmelte Levi zornig, aber so leise, dass sie es nicht mehr hören konnten. Es war bei weitem nicht das erste Mal, dass er wünschte, sie würden einfach sterben und ihn somit von ihrer Existenz erlösen. Levi war sich sicher, ohne die drei wäre die Welt ein besserer Ort. 
Nach einer Weile setze er sich vorsichtig auf. Schmerzhaft verzog er das Gesicht, während er seinen geschundenen Körper inspizierte. Das würde auf jeden Fall einige blaue Flecke geben. Verstohlen klopfte er sich den Schnee von seiner Jacke und richtete sich langsam auf. Er fühlte sich hundeelend. Das ferne Läuten der Schulglocke zeigte das Ende der Pause an. Reglos blieb er stehen und richtete den Blick hinauf in den mit dunklen Wolken verhangenen Himmel. Es sah ganz so aus, als würde es bald wieder anfangen zu schneien.
Er verspürte nicht die geringste Lust, jetzt in diesem Zustand seinen Mitschülern unter die Augen zu treten. Wahrscheinlich würde er alles nur schlimmer machen, wenn er jetzt schwänzte. Doch das war ihm im Moment herzlich egal. Levi verließ das Schuldgelände. Kurz überlegte er, ob er nach Hause gehen sollte. Vielleicht war sein Vater bereits wach und mit etwas Glück noch nicht völlig betrunken. Aber er würde sich sicherlich darüber aufregen, wenn er mitbekam, dass Levi den Unterricht schwänzte. Seine Mutter hatte immer Verständnis für seine Probleme in der Schule gehabt. Sein Vater wohl auch, aber seit dem Tod seiner Frau sah er nur noch seine eigenen.
Levi entschied sich, lieber vorerst nicht nach Hause zu gehen, sondern durchstreifte ziellos die Stadt, während er wieder einmal darüber sinnierte, wie grässlich das Leben doch war.
Irgendwann fing es tatsächlich wieder an zu schneien und es schien noch ein wenig düsterer und kälter zu werden. 

* * *

Es war nicht Levis Absicht gewesen, doch sein Weg hatte ihn hinauf in die verschneiten Wälder geführt, welche seine Heimatstadt umgaben. Er folgte dem notdürftig geräumten Waldweg, aber eigentlich war es ihm im Moment egal, dass er durch den Schnee stapfte. Selbst die Kälte war ihm ausnahmsweise einmal gleichgültig. Er wollte nur allein sein.
Immer noch schneite es, doch das dichte Dach der Nadelbäume über ihm hielt zumindest das gröbste Schneetreiben ab. Nach einer Weile gelangte er an eine Holzbrücke, die einen Bach überspannte, welcher sich talwärts in Richtung der Stadt durch den Wald schlängelte. Levi betrat die Brücke und blieb am Geländer stehen. Er starrte einen Moment lang versonnen auf den an den Ufern zugefrorenen Bachlauf. Vermutlich sollte er langsam zurückgehen. Ein Blick auf seine Armbanduhr zeigte ihm, dass er wohl schon fast vier Stunden hier draußen war. So allmählich begann er doch wieder die Kälte zu spüren und seine Sachen waren eigentlich auch nicht für eine längere Wanderung im Schnee geeignet. 
Sein Ranzen war auch noch immer in der Schule. Sollte er hingehen und ihn holen? Oder lieber doch gleich nach Hause gehen? So oder so ahnte er, dass ihm weiterer Ärger bevorstand. Nachdenklich starrte er auf den Bach hinunter. Daran waren nur Martin und seine beiden widerlichen Lakaien Schuld.
„Warum können sie mich nicht einfach in Ruhe lassen? Es ist so ungerecht! Ich habe ihnen doch nichts getan! Warum müssen sie immer auf mir herum hacken?“, stieß Levi frustriert hervor und in einer Anwandlung erneut aufkeimenden Hasses setzte er hinzu:
„Ich wünschte sie wären alle tot...“
Mit einem frustrierten Seufzen wandte er sich um und erschrak. Direkt hinter ihm stand ein Mann, welcher ihn zu beobachten schien. Levi hatte ihn nicht kommen hören. Wenn Levi genau hingesehen hätte, dann hätte er sicherlich bemerkt, dass es außer seinen eigenen Spuren keine weiteren in der feinen Decke des Neuschnees gab, welcher in den letzten Stunden gefallen war. Doch hatte er dafür im Moment keinen Blick. 
Abschätzend sah er den Fremden an, welcher seinen Blick mit einem leichten Lächeln erwiderte. Irgendetwas am Aussehen des Mannes störte ihn. Er schien nicht so recht hierher zu passen. Auf den ersten Blick war sein langer schwarzer gelockter Bart am auffälligsten. Dieser fiel bis über die Brust und war sorgfältig in Form eines Rechteckes zurechtgestutzt. Seine Kleidung mutete allerdings ebenso seltsam an. Ein langer karmesinroter Mantel, verziert mit aufwendigen goldenen Stickereien, reichte ihm bis hinab zu den Knöcheln. Unter dem Mantel lugten Stiefel hervor, deren Spitzen sich nach oben bogen. 
„Wenn man Gerechtigkeit will, muss man sie selbst in die Hand nehmen“, sagte der Fremde, während er Levi weiter beobachtete. Misstrauisch wich dieser einen Schritt zurück, sodass er mit dem Rücken an das Geländer der Brücke stieß. 
„Du brauchst vor mir keine Angst zu haben Levi“, fuhr der Unbekannte lächelnd fort. Levi wurde es allmählich richtig unbehaglich zumute. Woher kannte dieser seltsame Mann seinen Namen? 
„Wer seid ihr?“, fragte er misstrauisch, während er in Gedanken durchspielte, wie er am besten von hier verschwinden könnte. Heute war doch wirklich nicht sein Tag. Oh, drauf gibt es wohl keine zufriedenstellende Antwort“, erwiderte sein Gegenüber mit einem belustigten Grinsen.
„Für einige bin ich ein Gott, die meisten aber nennen mich einen Dämon. Ašenta ist mein Name.“
Levis Gesichtsausdruck zeigte nur allzu deutlich, was er von den Worten des Mannes hielt, während er erneut daran dachte, dass es wohl ratsam sei, schleunigst von hier zu verschwinden.
„Jetzt hältst du mich für einen Verrückten“, stellte Ašenta amüsiert fest und fuhr sogleich fort:
„Aber ich weiß eine Menge über dich. Ich weiß von deinem trunksüchtigen Vater und wie sehr du deine Mitschüler verabscheust und auch von deinem Musik-lehrer, den du erst heute früh wieder in Gedanken verflucht hast, weil er dich vor der ganzen Klasse vorgeführt hat.“
Levi machte langsam einen Schritt zur Seite und behielt dabei den Fremden genau im Blick. Es war ihm ein wenig unheimlich, wie gut dieser über ihn Bescheid wusste, besonders das letzte Detail. Entweder, dieser seltsame Kauz hatte gut geraten oder... Nein dieser andere Gedanke war einfach viel zu absurd, um ihn ernsthaft zu Ende zu führen.
„Was willst du von mir?“, fragte Levi leise, während er den Mann keinen Augenblick lang aus den Augen ließ.
„Nun, ich habe beschlossen, dir ein wenig Gerechtigkeit zu verschaffen“, erwiderte Ašenta mit einem erneuten Lächeln.
„Warum sollte ich euch irgendetwas von dem glauben, was ihr sagt?“
„Nun, wenn du mich ein Stück begleitest, werde ich es dir beweisen.“
„Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee wäre“, befand Levi und machte einen weiteren Schritt zur Seite, sodass er nun nicht mehr zwischen dem Fremden und dem Geländer der Brücke stand. Ašenta schmunzelte flüchtig. 
„Aber ich weiß, dass du deines jetzigen Lebens gründlich überdrüssig bist. Ich kann dir zu einem Neuanfang verhelfen, fern von all deinen Sorgen und Problemen hier.“
Ašenta wandte sich zu ihm herum und sah ihn mit einem warmherzigen Lächeln an, bei welchem Levi das erste Mal ein wenig ins Wanken geriet. Irgendwie erinnerte ihn dieses Lächeln ein wenig an seine Mutter, was ihm unbewusst ein wenig Vertrauen fassen ließ.
„Das klingt nicht wirklich vertrauenserweckender als all das, was ihr zuvor gesagt habt“, schränkte er dennoch ein, obwohl ihm sein Verstand noch immer riet, so schnell wie möglich zu verschwinden.
„Da hast du wohl recht“, gestand Ašenta mit einem leisen Lachen und sah ihn abwartend an. Levi schwieg einen Moment lang, ehe er vorsichtig fragte:
„Was für ein Neuanfang soll das denn sein?“
Ašenta schien einen Augenblick zu überlegen, ehe er antwortete:
„Es gibt mehr als nur diese eine Welt, die du kennst. Ich gehöre in meiner Welt zu denjenigen, welche die Übergänge zwischen den Welten bewahren.“
Auf Levis Gesicht malte sich nach wie vor Skepsis ab, während Ašenta fortfuhr:
„Ich kann dich hinüber in meine Welt, in mein Reich bringen. Dort könntest du in Ruhe leben wie du es doch so gern willst. Außerdem kann ich dir noch etwas anderes geben, was du dir schon lange wünschst.“
Levi war sichtlich hin und her gerissen. Auf gewisse Weise klang Ašentas Worte verlockend. 
„Und was soll das sein, was ich mir schon lange wünsche?“
„Rache und Gerechtigkeit“, erwiderte Ašenta schlicht und wandte sich ab:
„Es liegt ganz bei dir.“
Mit diesen Worten überquerte Ašenta die Brücke und verließ auf der anderen Seite den Pfad, um sich seinen Weg durch den Schnee tiefer in den Wald hinein zu bahnen. Levi sah im zögernd nach. Rache hatte er gesagt... und Gerechtigkeit. Er dachte unwillkürlich an Martin und die anderen. Sein Blick ruhte immer noch auf Ašenta, dessen leuchtend roter Mantel noch immer gut zwischen den Bäumen zu erkennen war. Ašentas Worte hatten tief in ihm etwas ausgelöst, was er selbst nicht so recht beschreiben konnte. Einen Moment zögerte er noch, dann setze er sich in Bewegung und folgte ihm in den Wald hinein.

Ašenta schlug ein straffes Tempo an, sodass Levi Mühe hatte ihm zu folgen. Zwischen den Bäumen lag der Schnee nicht so hoch wie auf den Wiesen und Feldern, dennoch erschwerte er das Vorankommen erheblich. Schon bald hatten sie den Waldweg ein ganzes Stück hinter sich gelassen. Das Gelände stieg stetig an und begann zunehmend felsiger zu werden. 
Levi hatte Ašenta immer noch nicht eingeholt und er verlor ihn gänzlich aus den Augen, als dessen roter Mantel hinter einigen größeren Felsbrocken unterhalb einer Steilwand verschwand. Levi umrundete die Felsen und stellte fest, dass Ašenta hinter diesen auf ihn gewartet hatte. Ein wenig außer Atem lehnte er sich gegen einen der Felsen, während er Ašenta beobachtete. 
„Komm“, meinte dieser nur mit einem leichten Lächeln und trat auf eine kleine Spalte zwischen zwei der Felsen zu. Levi folgte ihm. Auch wenn er nach wie vor leichte Bedenken hatte, gab es jetzt wohl sowieso kein Zurück mehr, wenn es sich als eine Falle herausstellen sollte. 
Levi zwängte sich hinter Ašenta durch die schmale Felsspalte und stellte fest, dass es sich dabei um den Zugang zu einer Höhle handelte. Direkt hinter der Spalte verbreiterte sich der Raum und schien weiter abwärts in den felsigen Untergrund hineinzuführen, jedoch war nicht viel zu erkennen, da der Gang völlig in Dunkelheit gehüllt war. 
„Sei vorsichtig, es ist etwas rutschig“, sagte Ašenta und griff Levis Hand, ehe er ihn weiter hinunter in den Gang zog. Während Levi kaum etwas erkennen konnte, schien Ašenta keinerlei Mühe zu haben ihren Weg zu finden. Levi stellte fest, dass der Boden des Gangs schon bald aus Stufen bestand, welche wohl aus dem Untergrund gehauen worden waren. Während Ašenta ihn führte, tastete er sich mit seiner freien Hand an der Höhlenwand entlang, um zusätzlich Halt zu haben. 
„Was ist das hier für ein Ort?“, fragte er, während er vergeblich versuchte mit seinen Blicken die ihn umgebende Dunkelheit zu durchdringen. 
„Einer jener Übergänge zwischen den Welten. In eurer Welt werden diese immer weniger. Dies hier ist einer der letzten.“
Ein kleines Stück weiter machte der Gang einen Knick und nun konnte Levi am Ende des Ganges ein fernes Leuchten erkennen.

Der Gang mündete in einer großen, von mehreren Fackeln ausgeleuchtete Kammer. Levi ließ seinen Blick durch den unterirdischen Raum wandern. Die glatten Wände der Kammer waren mit fremdartig anmutenden Hieroglyphen bedeckt, welche in den Stein gehauen worden waren. Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich ein kreisförmiges Gebilde, welches aus der Wand herausragte. Der Steinkreis war mit denselben Hieroglyphen versehen, welche die Wände der Kammer bedeckten. 
Doch etwas anderes zog Levis Aufmerksamkeit auf sich. Vor dem Steinkreis befand sich eine Art Altar und auf diesem Altar lag eine menschliche Gestalt.
„Tritt näher“, forderte ihn Ašenta auf und machte eine einladende Geste, wobei Levi meinte, ein kurzes Aufglimmen in seinen Augen sehen zu können. Zögerlich tat er wie ihm geheißen. Noch bevor er den Altar erreichte, erkannte er bereits, um wen es sich handelte. Es war Martin, welcher da, an Händen und Füßen gefesselt, vor ihm lag. Unsicher blieb Levi vor ihm stehen und starrte ungläubig auf ihn hinab. Völlig reglos lag Martin vor ihm. Er schien zu schlafen oder war bewusstlos. Levi tippte eher auf letzteres. 
„Was...?“, brachte er hervor und wandte sich zu Ašenta um. 
„Wie ich sagte, ich kann dir helfen, Rache zu nehmen.“, erwiderte dieser völlig gelassen und setze hinzu:
„Außerdem wird ein Opfer benötigt, wenn ein Mensch von dieser Welt in eine andere gehen will. Und ich dachte, wer könnte da passender sein als derjenige, der dir dein Leben hier zu Hölle gemacht hat?“
Er grinste und sah Levi erwartungsvoll an.
„Aber ich kann doch nicht...“, stammelte Levi und wich unwillkürlich einen Schritt vor Ašenta zurück. Er spürte wie sein Mund ganz trocken wurde. Verschiedene Gedanken und Gefühle rasten zugleich durch seine Kopf. 
„Sieh ihn dir doch an“, forderte Ašenta ihn auf. Zögerlich wandte sich Levi zu dem Altar herum. Im gleichen Moment trat Ašenta hinter ihn.
„Du hast dir doch schon oft gewünscht, er wäre tot, oder?“, hauchte er in Levis Ohr:
„Jetzt hast du die Gelegenheit, dafür zu sorgen, dass dieser Wunsch in Erfüllung geht.“
Levi antwortete nicht, deshalb fuhr Ašenta säuselnd fort:
„Du bist doch selbst der Meinung, dass er es verdient hat. Der einzige Grund, warum du es bisher nicht ernsthaft erwogen hast, waren die Konsequenzen, die dein Handeln gehabt hätten, oder? Nun, jetzt hat es keine negativen Konsequenzen. Wenn du es tust, beginnt für dich jenseits dieses Portals ein völlig neues Leben.“
Bei diesen Worten wies er mit einer ausladenden Geste auf den Steinkreis, welcher sich hinter dem Altar befand. Levi schwieg noch immer, aber in seinem Gesicht arbeitete es sichtlich. Wenn er auf Martin herabsah, verspürte er tatsächlich nur Hass und Zorn. Und Ašentas Worte klangen durchaus verführerisch in seinen Ohren, denn dieser hatte damit genau das wiedergegeben, was Levi empfand .
Levi spürte wie ihm Ašenta etwas in die Hand drückte und unwillkürlich schlossen sich seine Finger um den Gegenstand. Levis Blick glitt hinunter zu seiner Hand. Es war der hölzerne Griff eines Dolches, welchen seine Finger umschlossen hielten. Aber es war keine gewöhnliche Waffe. Die Klinge bestand aus schwarzen Obsidian und mutete durch und durch archaisch an. 
Er schluckte schwer, während er noch immer mit sich rang. Vor seinem inneren Auge sah er all die unzähligen Male aufsteigen, in denen ihn Martin grundlos drangsaliert hatte. Er horchte in sich hinein um festzu-stellen, ob er irgendeinen Grund fand, aus welchem er Martins Leben hätte schonen sollen. Doch er fand beim besten Willen keinen einzigen. Das einzige was er für den vor ihm liegenden Jungen empfand war Hass und Verachtung. 
„Was glaubst du, was passieren wird, wenn du ihn laufen lässt?“, fuhr Ašenta leise hinter ihm fort. „Du kennst ihn, oder? Selbst wenn du nicht mehr da wärst, dieser Wurm würde sich ein anderes Opfer suchen. Es liegt in seiner Natur andere zu quälen. Es bereitet ihm Vergnügen. Eine solche Kreatur verdient ihr Leben nicht.“
Levi schluckte, auch solche Gedanken waren ihm nicht neu. Ašentas Stimme schien noch immer wie ein verführerisches Säuseln in seinem Kopf nachzuklingen und machte es schwer klar zu denken.
Nach einem weiteren Moment des Zögerns nickte Levi zögerlich und trat direkt vor den Altar. Ein zufriedenes überlegenes Grinsen erschien auf Ašentas Gesicht, während er jede Bewegung Levis genau beobachtete. Levi betrachtete einen Augenblick lang Martins Gesicht. Gerade in diesem Moment machte es einen friedlichen, gar unschuldigen Eindruck. Doch er hatte oft genug ganz andere Dinge in diesem Gesicht gesehen. Er wusste, dass es stimmte. Es machte Martin Freude, ihn zu quälen.
Unwillkürlich erinnerte er sich an das, was vor einigen Stunden vor der Turnhalle geschehen war. Er spürte erneut den Schmerz und die Demütigung. Aber jetzt - jetzt waren die Karten neu gemischt. Jetzt war er plötzlich nicht mehr derjenige, der machtlos und ausgeliefert war!
Er spürte, dass seine Hand leicht zitterte, als er sich hinunterbeugte. Unwillkürlich fragte er sich, wie es wohl sein würde, wenn Martin bei Bewusstsein wäre. Levi konnte nicht verhindern, dass er sich in Gedanken ausmalte, wie Martin ihn angstvoll anstarren würde, während er sich mit dem Dolch über ihn beugte. Wahrscheinlich würde er winselnd um sein Leben betteln. Levi stockte und schluckte schwer. Konnte er das wirklich tun?  
Wahrscheinlich war es besser, dass Martin nicht bei Bewusstsein war, befand er, während er noch immer zögerte. Doch dann schüttelte er entschlossen den Kopf, um seine Zweifel beiseite zu wischen. Eigentlich fand er, dass Ašenta mit seinen Worten ganz und gar Recht hatte.
Levi hob den Dolch und stieß zu.

Reglos starrte Levi auf das Blut hinab, welches sich über den Altar verteilte und langsam an dessen Seiten herabrann. Er spürte, wie ihm Ašenta von hinten sanft die Hand auf die Schulter legte.
„Jetzt weiß ich, dass ich dich gebrauchen kann“, stellte er mit einem leichten Lächeln fest. Levi rührte sich nicht. Er hatte es wirklich getan. Martin lag tot vor ihm, doch so ein rechtes Hochgefühl wollte sich nicht einstellen. Es war ein... seltsames Gefühl... Langsam legte er den blutverschmierten Dolch, welchen er noch immer in der Hand hielt, auf dem Altar ab.  Einen Augenblick lang starrte er noch auf das Gesicht des Toten, dann wandte er eilig den Blick ab.
„Lass uns gehen“, fuhr Ašenta fort und schob Levi nachdrücklich in Richtung des steinernen Kreises hinter dem Altar. Ašenta vollführte eine knappe Geste, woraufhin in dem Steinkreis ein blaues Licht auf-leuchtete, welches diesen vollständig auszufüllen schien. Trotz des Chaos widersprüchlicher  Gefühle, welche in Levis Innerem tobten, betrachtete er das Schauspiel mit einer gewissen Neugierde und Faszination.
Zögerlich trat Levi näher. Ein letztes Mal warf er einen Blick auf den Altar, doch wandte er eilig wieder den Blick ab. Es war wohl besser, wenn er für den Moment nicht weiter darüber nachdachte, was er getan hatte. 
„Hast du es dir anders überlegt?“, fragte Ašenta, angesichts von Levis Zögern. Doch dieser schüttelte leicht den Kopf.
„Nein“, antwortete er leise. Außerdem gab es jetzt wohl ohnehin kein Zurück mehr nachdem, was er getan hatte. Einen Augenblick zögerte er noch, dann trat er auf das Portal zu. Vorsichtig streckte er seine Hand aus, um es zu berühren. Beinahe erwartete er, hinter dem Licht die Felswand zu ertasten, doch dem war nicht so. 
„Beeil dich ein wenig“, hörte er Ašentas Stimme hinter sich.
„Ich kann es nicht ewig offen halten.“
„Na schön“, dachte sich Levi und machte einen entschlossenen Schritt nach vorn.
Todd
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Der Löwe von Hattusa Empty Re: Der Löwe von Hattusa

10.09.21 21:55
Erstes Kapitel

Levi fühlte sich ein klein wenig benommen. Blinzelnd sah er sich um. Offenbar befand er sich in einem großen Raum, doch war der größte Teil von diesem in Dunkelheit gehüllt. Nur eine Fackel, welche neben dem Portal angebracht war, spendete etwas Licht und warf lange flackernde Schatten. Direkt vor ihm befand sich ein Altar, nicht unähnlich dem aus der Höhle. Jedoch befand sich dieser auf einem kleinen Stufenpodest. Unterhalb des Podestes begann ein Säulengang, welcher sich im Halbdunkel verlor. 
Ašenta nahm die Fackel aus ihrer Halterung und bedeutete Levi ihm zu folgen, während er die Treppen hinabstieg. Levi folgte ihm und ließ dabei seinen Blick weiter durch den Raum wandern. Die Wände, welche aus massiven Felsgestein zu bestehen schienen, waren ebenfalls mit den seltsamen Zeichen versehen, welche Levi zuvor in der Höhle gesehen hatte. 
„Wo sind wir hier?“, erkundigte sich Levi, während sein Blick zu Ašenta zurückkehrte. 
„In meinem Tempel“, erwiderte dieser schlicht und fügte mit einer etwas säuerlichen Mine hinzu:
„Meinem einzigen im ganzen Ḫatti-Land.“
Am Ende der Kammer betraten sie einen schmaleren Gang, welcher nach einigen Metern in einen großen, ebenfalls von Säulen getragenen Raum mündete. Doch dieser war offenbar nicht mehr aus dem Fels geschlagen. Soweit Levi es erkennen konnte schienen die Funda-mente des Bauwerkes  aus großen Steinquadern zu be-stehen, während der Rest der Wände aus Lehmziegeln errichtet worden war. Einige vage zu erkennende Durchgänge schienen in Nebenräume zu führen. Außerdem waren in den Wänden mehrere Nischen eingelassen, über deren Zweck Levi nur spekulieren konnte. Auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes fiel durch mehrere hohe Fenster ein wenig Licht in den Raum, allerdings nicht ausreichend genug, um diesen vollständig zu erhellen.
Levis Blick fiel auf eine mächtige Statue, welche über einem Altar nahe des Durchgangs, durch den sie gekommen waren, thronte. Durch die schwierigen Lichtverhältnisse konnte er diese nur undeutlich erkennen. Doch Levi war sich sicher, eine gewisse Ähnlichkeit zwischen dem Bildnis und Ašenta erkennen zu können. Ihm blieb allerdings keine Zeit für längere Betrachtungen. Ašenta hielt nicht an, sondern steuerte direkt auf den Ausgang zu. Levi folgte ihm. Als er hinaustrat, hob er eilig die Hand, um seine Augen vor dem grellen Sonnenlicht zu schützen. Das Erste, was ihm auffiel, war die warme Luft, die ihm entgegenschlug, denn im Inneren des Bauwerkes war es um einiges kühler gewesen. Unwillkürlich öffnete er seine warme Winterjacke.
Als sich Levis Augen wieder an die Helligkeit gewöhnt hatten, sah er sich um. Er stand auf einem ummauerten Hof. Entlang des Hofes reihten sich eine ganze Reihe von Gebäuden,  von denen die meisten direkt an die benachbarten Bauwerke angrenzten. Die meisten dieser Gebäude waren niedrige einstöckige Bauten aus Lehmziegeln mit flachem Dach. Fast alle von ihnen schienen jedoch schon einmal deutlich bessere Tage gesehen zu haben. Bei vielen Gebäuden bröckelte der Putz von den Wänden und wo Lücken zwischen den Bauwerken geblieben waren, wucherte Unkraut.
Ašenta ließ ihm keine Zeit sich umzusehen, sondern überquerte zielstrebig den Hof und hielt auf eines der Häuser zu. Über dem Gebäude stieg eine dünne feine Rauchsäule in den Himmel und zeigte somit an, dass dieses bewohnt wurde. Levi folgte ihm, während er seinen Blick weiter über die umstehenden Gebäude wandern ließ. Zumindest bei einem von diesen schien es sich um eine Art Stallung zu handeln, denn in einem kleinen Gatter, welches an das Gebäude angeschlossen war, entdeckte Levi eine handvoll Schafe. Auf dem Hof liefen mehrere dutzend Hühner herum und suchten nach Fressbarem. Unwillkürlich stellte sich Levi die Frage, wo er hier gelandet war. Die ganze Anlage wirkte... wie aus der Zeit gefallen. Zumindest war dies das erste Wort, was ihm in den Sinn kam, wenn er hätte beschreiben müssen, was er sah.
Doch noch ehe Ašenta sein Ziel erreicht hatte, öffnete sich die Tür des Hauses und ein Mann trat aus diesem hervor. Er trug einen Bart, welcher Ašentas nicht unähnlich war. Levi schätzte den Mann auf etwa Mitte dreißig. 
„Ah, sehr gut, dich habe ich gerade gesucht!“, rief ihm Ašenta mit einem gutmütigen Grinsen entgegen. Der Mann blieb vor der Tür stehen und Levi spürte, wie er seinen Blick abschätzend über ihn gleiten ließ, dann verneigte sich der Mann vor Ašenta. 
„Warum habe ich das Gefühl, dass ihr eine Aufgabe für mich habt, Herr?“, fragte der Mann und richtete dabei seinen Blick wieder auf Ašenta. Erneut huschte ein Grinsen über dessen Gesicht:
„Levi das ist Kuwanta, der Hohepriester des Tempels.“
„Was nichts heißt. Ich bin der einzige Priester, den es hier noch gibt“, bemerkte Kuwanta und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Levi:
„Das soll mich aber nicht davon abhalten, dich in unserem bescheidenen Tempel willkommen zu heißen.“
Ein freundliches Lächeln umspielte Kuwantas Mundwinkel. An Ašenta gewandt setzte er hinzu:
„Ich nehme an, der junge Mann ist dein neuster Schützling?“
„So könnte man das ausdrücken, ja“, bestätigte dieser mit einem leichten Grinsen. Da er den fragenden Blick spürte, mit welchem ihn Levi bedachte, fuhr Ašenta fort:
„Ich möchte dich erst einmal in Kuwantas Obhut geben. Du wirst sehen, diese Welt unterscheidet sich grundlegend von der, die du kennst. Hier kannst du lernen in dieser Welt zurecht zu kommen.“
„Mir bleibt jetzt wohl kaum noch etwas anderes übrig, als euch weiterhin zu vertrauen“, stellte Levi fest und sah ein wenig unsicher zwischen Ašenta und Kuwanta hin und her. Ašenta zeigte lediglich ein belustigtes Grinsen und nickte leicht:
„Ich weiß, dass dir das Lernen leicht fällt. Und du kannst hier eine Menge lernen. Zum Beispiel die Sprachen dieses Landes. In dem Moment, wo du das Portal durchquert hast, hast du gelernt Nesisch zu sprechen, aber mit Nesisch allein wirst du nicht überall sonderlich weit kommen.“ 
„Nesisch?“, fragte Levi verwirrt.
„Du hast es wohl nicht bemerkt, aber du benutzt es, seitdem wir meinen Tempel betreten haben“, erwiderte Ašenta mit einem amüsierten Schmunzeln. Eine kurze Pause entstand. Levi hatte sowieso genug damit zu tun, die neue Situation zu verdauen, in welche er hineingeraten war und Kuwanta schien nicht sonderlich viel daran gelegen sich einzumischen. 
„Nun aber werde ich euch verlassen“, verkündete Ašenta und brach damit die Stille und bedachte Levi noch mit einem eingehenden Blick. Dann klopfte er ihm leicht auf die Schulter:
„Viel Glück.“
Mit diesen Worten schritt Ašenta über den Platz davon und verschwand wieder im Inneren des Tempelgebäudes, aus welchem er und Levi zuvor gekommen waren.

Nicht sonderlich begeistert, mit dem Fremden allein gelassen zu werden, sah Levi Ašenta nach. Dann wanderte sein Blick zurück zu Kuwanta, welcher ihn unverwandt ansah. Da es Levi in seiner warmen Winterjacke in der prallen Sonne nun endgültig zu warm wurde und er zu schwitzen begann, zog er diese aus und band sie sich um die Hüfte.
„Lass uns nicht hier herumstehen. Komm mit hinein und lass uns drinnen weiter reden“, brach Kuwanta schließlich die Stille und machte eine einladende Geste in Richtung des Hauses hinter sich. Levi nickte ein wenig befangen und folgte dem Priester nach drinnen. 
„Vorsicht, stoß dir nicht den Kopf!“, bemerkte Kuwanta, als er durch die Tür trat. Diese erschien Levi tatsächlich ziemlich niedrig. Für Kuwanta, welcher allerdings von recht kleinem Wuchs war, stellte dies aber offensichtlich kein Problem dar. Levi hingegen musste den Kopf einziehen, um sich diesen nicht am Türrahmen zu stoßen. 
Im Inneren des Haus war es dämmrig, denn nur durch einige kleine Fensterschlitze fiel etwas Licht herein. Dafür war es aber auch spürbar kühler als draußen auf dem Hof. Levi vermutete, dass durch die kleinen Fenster, zusätzlich zur isolierenden Wirkung des Lehms, der Temperaturaustausch so gering wie möglich gehalten werden sollte. 
Während sich Levi noch in dem Raum umsah, hatte Kuwanta sich bereits auf dem Boden an einem niedrigen Tisch in der Mitte des Zimmers niedergelassen. Auf Kuwantas Aufforderung hin setzte sich Levi zu dem Priester an den Tisch.
Für einen Moment herrschte Schweigen, während Kuwanta Levi nachdenklich beobachtete. Ehe einer von beiden das Schweigen brechen konnte, betrat eine Frau von ähnlich geringem Wuchs den Raum.
„Oh, wir haben einen Gast?“, stellte die Frau an Kuwanta gewandt fest und fügte fragend hinzu:
„Ich nehme an er bleibt zum Abendessen?“
Kuwanta nickte leicht und erwiderte:
„Also, um genau zu sein handelt es sich bei unserem Gast um Ašentas neusten Schützling und er hat ihn vorläufig unserer Obhut übergeben.“ 
Und an Levi gewandt fügte er hinzu:
„Das ist Maraliya,  mein Weib.“
„Freut mich dich kennen zu lernen“, wandte sich Maraliya nun selbst an Levi und zeigte dabei ein wohlwollendes Lächeln. Levi nickte ein wenig scheu und erwiderte zaghaft das Lächeln. Diese ganze Situation war ihm nach wie vor ausgesprochen unangenehm.
Nachdem Maraliya zurück an ihre Arbeit gegangen war, wandte sich Kuwanta wieder Levi zu.
„Also ich denke, es gibt ein paar Dinge, die wir klären sollten“, setze Kuwanta an. Levi nickte leicht und beobachtete sein Gegenüber.
„Ich werde nicht fragen, wo du herkommst und weshalb dich Ašenta hierher gebracht hat“, fuhr Kuwanta fort und fügte mit einem flüchtigen Schmunzeln hinzu:
„Seitdem ich in Ašentas Dienste getreten bin, habe ich schon manch seltsame Dinge erlebt.“
Levi nickte erneut und sah den Priester abwartend an. So recht wusste er nicht, was er von ihm halten sollte. Bisher hatte man ihn hier freundlich willkommen geheißen. Aber diese ganze Situation und die Ereignisse der letzten Stunden waren nicht leicht zu verarbeiten. Zu vieles war in zu kurzer Zeit passiert, was sein Leben gründlich auf den Kopf gestellt hatte. Unablässig nagte an ihm das Gefühl, einen schweren Fehler begangen zu haben. Schweigend starrte Levi vor sich auf den Boden und hatte die ganze Zeit über das Gefühl, sein Gegenüber müsse ihm ansehen können, was er getan hatte. Doch stattdessen bedachte Kuwanta ihn weiter mit einem freundlichen, wohlwollenden Lächeln und fuhr fort: 
„Ašenta wünscht, dass ich dich unterrichte, aber wir sind nicht so wohlhabend, dass wir dich als Gast bei uns aufnehmen können. Wenn du hier bei uns wohnst, wirst du auch deinen Beitrag zu unserem Auskommen leisten müssen.“
„Natürlich“, erwiderte Levi und fragte sich dabei, was das wohl genau bedeuten mochte. Nach allem, was er draußen auf dem Hof gesehen hatte, schienen die Menschen hier in äußerst einfachen Verhältnissen zu leben.
Kuwanta machte eine kurze Pause und die Stille ließ Levis Unbehagen noch ein wenig weiter wachsen.
„Aber erst einmal sollten wir dich vernünftig einkleiden. So kannst du hier nicht herumlaufen“, fuhr Kuwanta fort.
Erneut wusste Levi nichts anderes zu tun, als leicht zu nicken. Er konnte nicht bestreiten, dass ihm in seinen Wintersachen langsam ziemlich warm wurde. Hier im Haus war es zwar nicht ganz so heiß wie draußen, aber dennoch herrschten hier unbestreitbar sommerliche Temperaturen.
„Ich werde meiner Frau nachher auftragen, dass sie etwas für dich bereitlegen soll. Wir finden bestimmt noch etwas in deiner Größe“, setzte Kuwanta seinen Monolog fort, während er Levi beobachtete. Kuwanta schien nicht zu entgehen, dass sich Levi nicht ganz wohl in seiner Haut fühlte, weshalb er mit einem aufmunternden Lächeln hinzusetzte:
„Du wirst dich hier schon einleben.“
Auch dieses Mal beschränkte Levi sich auf ein Nicken und dachte, dass ihm wohl kaum etwas anderes übrig blieb.
„Na, du scheinst ja nicht sonderlich gesprächig zu sein.“
Ein amüsiertes Schmunzeln umspielte die Mundwinkel des Priesters.
Levi brummte leise und schüttelte leicht den Kopf.
„Es ist alles nur ein wenig viel auf einmal.“

In dem Augenblick kehrte Maraliya zurück und begann damit den Tisch zu decken. 
„Sagst du den anderen Bescheid, dass wir essen können?“, erkundigte sich Maraliya, während sie wieder in Richtung Küche verschwand.
„Natürlich“, erwiderte Kuwanta und erhob sich, um das Haus zu verlassen. Levi blieb sitzen und beschränkte sich darauf zu beobachten, so lange ihm nichts anderes aufgetragen wurde. Stattdessen begutachtete er unauf-fällig aber kritisch, was Maraliya auf den Tisch stellte. Neben einer Holzplatte mit einem dünnen Brotfladen, stellte sie einen kupfernen Kessel auf den Tisch, welcher eine Art Eintopf zu beinhalten schien. Über die Zusam-mensetzung konnte er allerdings, abgesehen von einigen Fleischstücken die im Kessel schwammen, nur speku-lieren.
Es dauerte nicht lange, bis Kuwanta zurückkam. Begleitet wurde er von zwei Burschen, welche ungefähr in Levis Alter sein mochten. Der eine schien ihm ein klein weniger jünger, der andere etwas älter, aber sicher war sich Levi nicht. Kuwanta stellte die beiden als seine Söhne Pathana und Aḫuwaja vor. Kaum, dass sie sich gesetzt hatten, öffnete sich erneut die Tür und ein weiterer Mann gesellte sich zu ihnen. Kuwanta stellte ihn als Ešandri vor und Levi meinte den Worten Kuwantas entnehmen zu können, dass es sich bei diesem wohl um eine Art Hofknecht handelte. Levi fiel auf, dass auch die anderen Personen am Tisch alle etwa Kuwantas Größe hatten und damit deutlich kleiner waren als er selbst.
Während Ešandri am Tisch Platz nahm, begann Maraliya damit, das Essen zu verteilen. Ein klein wenig misstrauisch beäugte Levi den Inhalt der hölzernen Schale, welche Maraliya ihm zuschob. Zu dem Eintopf erhielt jeder ein Stück von dem Fladenbrot, welches Maraliya zerteilte. Doch als Levi von dem Eintopf kostet, stellte er fest, dass dieser ihm gar nicht so übel schmeckte. 
Das Getränk, welches zum Essen gereicht wurde, rief bei Levi dann allerdings erneut Skepsis hervor. Aus seine Nachfrage hin bekam er die Antwort, dass es sich bei diesem um Bier handelte. Zuhause hatte er stets die Finger von Alkohol gelassen und eigentlich verspürte er auch kein großes Bedürfnis dies zu ändern. Allerdings wollte er auch seine Gastgeber nicht beleidigen, indem er es verschmähte. Vorsichtig nippte er an seinem Becher. Ihm fehlte zwar der Vergleich, doch er kam zu dem Schluss, dass dieses Getränk wohl nicht viel mit dem zu tun hatte, was man in seiner Welt als Bier bezeichnete.
Während des Essens spürte Levi, dass besonders Kuwantas beide Söhne ihn mit neugierigen Blicken bedachten. 
„Würdet ihr unseren Gast ein wenig herumführen?“, wandte sich Kuwanta an seine beiden Söhne, nachdem sie ihr Mahl beendet hatten und fügte an seine Frau gewandt hinzu:
„Meinst du, ob du in der Zwischenzeit angebrachtere Kleidung für ihn findest?“
„Ich werde nachsehen. Eigentlich müssten wir noch etwas dahaben“, erwiderte Maraliya sich erhebend. Auch ihre beiden Söhne erhoben sich von ihren Plätzen und sahen Levi abwartend an. 
Ein wenig zögerlich stand Levi auf und folgte Kuwantas Söhnen nach draußen auf den Hof. 
„Also, ich bin Pathana und das ist mein Bruder Aḫuwaja“, stellte sich der Ältere noch einmal mit einem leichten Lächeln vor, nachdem er die Tür des Wohnhauses hinter sich geschlossen hatte. 
„Levi.“
Nach wie vor war ihm die Situation ausgesprochen unangenehm. 
„Und du wirst jetzt hier bleiben?“, fragte Aḫuwaja neugierig.
„Wahrscheinlich... fürs Erste“, erwiderte Levi und bemühte sich um ein mattes Lächeln. Pathana begann indessen damit, Levi auf dem Hof herumzuführen. Wie Levi rasch feststellte, schien es sich bei dem Tempel auch zugleich um einen kleinen Wirtschaftsbetrieb mit Werkstätten, Ställen und einigen landwirtschaftlichen Flächen zu handeln. Außerdem gab es Lagerhäuser und Kornspeicher. Viele der Gebäude waren allerdings ungenutzt und standen leer, wie Levi von Pathana erfuhr. Etwas verborgen im Schatten zwischen zwei Gebäuden lag ein Brunnen, welcher die Bewohner des Tempels und ihre Tiere mit Trinkwasser versorgte.
„Und wo kommst du her? Solche seltsamen Sachen habe ich noch nie zuvor gesehen“, forschte Aḫuwaja wissbegierig weiter und fügte ein wenig bekümmert hinzu:
„Wir bekommen hier draußen nur selten Fremde zu Gesicht.“
Auf diese Frage wusste Levi keine rechte Antwort zu geben.
„Nun.... von ziemlich weit weg“, meinte er, während er nach einer passenden Antwort suchte. Was ihm in den letzten Stunden widerfahren war, konnte er den beiden wohl kaum erzählen.
„Ašenta hat mich hierher gebracht“, fügte er schließlich hinzu. Aḫuwaja schien mit dieser  Antwort keinesfalls zufrieden zu sein und machte bereits Anstalten, weiter nachzuhaken, als er von seinem Bruder unterbrochen wurde.
„Jetzt frag unserem Gast doch keine Löcher in den Bauch.“
Und entschuldigend fügte er hinzu:
„Der Kleine ist furchtbar neugierig.“
„Offensichtlich“, erwiderte Levi mit einem gutmütigen Lächeln. Die offenherzige Art der beiden Brüder ließ ihn allmählich ein wenig auftauen. 
Sie hatten mittlerweile den Hof hinter sich gelassen und folgten einem kleinen Pfad, welcher sich durch ein Feld schlängelte. Auf dem Feld wuchs ein Getreide, welches Levi für Gerste hielt, doch so ganz sicher war er sich da nicht. Aufmerksam ließ er seinen Blick umherschweifen. Die ganze Anlage schien in einem Tal errichtet worden zu sein, rechts und links stieg das Gelände alsbald steil  an. Das eigentliche Tempelgebäude selbst stand direkt unterhalb der steilen Felswand am Ende des Tales.
Allmählich begann es dunkler zu werden. Levi und seine beiden Begleiter hatten inzwischen das Ende des Feldes erreicht und vor ihnen lag eine kleine Weide, auf welcher einige Rinder grasten. Es handelte sich bei diesen um stämmige Tiere, welche kleiner waren als Levi es gewohnt war. Aber allgemein schienen hier alle etwas kleinwüchsig zu sein, nur mit Ausnahme Ašentas. Dieser hätte wohl auch die meisten Menschen in Levis Welt noch mühelos überragt.
„Lass uns gleich die Rinder reinbringen, wenn wir schon hier sind“, sagte Pathana zu seinem jüngeren Bruder und riss Levi damit aus seinen Gedanken. Levi folgte den beiden, während diese sich daran machten, die Rinder zusammen zu treiben.
„Es ist ratsam, sie nicht zu lange aus den Augen zu lassen“, erklärte Pathana Levi, während er seine Arbeit verrichtete.
„Weggelaufen ist uns bisher noch keins. Aber da oben in den Bergen leben Wölfe und Löwen. Für gewöhnlich halten sie sich von den Menschen fern, aber ab und an verirrt sich schon einmal ein Raubtier herunter ins Tal.“
„Hier gibt es Löwen?“, fragte Levi ein wenig erstaunt, während er in Gedanken versuchte sich ein Bild zu machen wo er gelandet sein könnte. 
„Ja, aber nicht viele“, erwiderte Aḫuwaja unbe-kümmert. Levi wusste nicht so recht, was er von dieser Aussage halten sollte, doch er fragte auch nicht weiter nach. Gemeinsam mit den Rindern machten sie sich auf den Rückweg hinauf zum Hof, wo die beiden Brüder die Tiere in einen der Ställe sperrten. Anschließend begaben sie sich wieder hinüber zum Wohnhaus. 

Drinnen schienen Maraliya und Kuwanta bereits auf sie zu warten. 
„Wir haben die Rinder mit heraufgebracht“, berichtete Pathana, als sie den Raum betraten.
„Gut, dann gebe ich Ešandri Bescheid, damit er sich den Weg sparen kann. Zeigt Levi doch gleich noch eure Schlafkammer. Eure Mutter hat ihm einen Schlafplatz bei euch bereitet.“
Und an Levi gewandt fügte er noch hinzu:
„Und ein neues Gewand für dich haben wir auch bereitgelegt. Es liegt auf der Schlafstelle. Sollte es dir zu weit sein, wird Maraliya es noch etwas anpassen.“
„Danke“, erwiderte Levi mit einem leichten Nicken und folgte Kuwantas Söhnen in ihre Schlafkammer, welche hinter der Küche im Wohnhaus lag. Das bereit gelegte Gewand bestand aus schlichtem gewebten Tuch, wie es auch Pathana und Aḫuwaja trugen und passte erstaunlich gut, auch wenn es eher ein wenig kurz als zu weit ausfiel. Und wenngleich es für Levi auch recht ungewohnt war, so musste er doch eingestehen, dass es besser war dies zu tragen, als hier in seinen warmen Wintersachen herumzulaufen.

* * *

Später an diesem Abend begab sich Levi mit Kuwantas Söhnen erneut hinüber in deren Schlafkammer und machte es sich auf dem ihm zugewiesenen Schlafplatz bequem. Oder zumindest versuchte er dies.
Seine Schlafstatt bestand aus einem einfachen Strohsack und einer Wolldecke. Beides war kratzig und Levi erschien es nahezu unmöglich, eine bequeme Position zum Liegen zu finden. Die ungewohnte Umgebung tat ihr Übriges, damit er nicht in den Schlaf fand.
Pathana und Aḫuwaja dagegen schienen rasch eingeschlafen zu sein, denn es dauerte nicht lange, bis Levi ihre gleichmäßigen Atemzüge hören konnte. Er seufzte leise, während er sich auf die Seite drehte und aus halbgeöffneten Augen die Wand vor sich anstarrte. Jetzt, wo er langsam zur Ruhe kam, begann in ihm Heimweh aufzusteigen, ein Gefühl, welches zunehmend an ihm nagte, je länger er dalag.
Wo war er hier nur hineingeraten? Er konnte sich des Gedanken nicht erwehren, womöglich einen schwer-wiegenden Fehler begangen zu haben. Irgendwann obsiegte dann doch die Müdigkeit und er glitt allmählich in einen unruhigen Schlaf hinüber...

* * *

Es waren so viele neue Eindrücke und Erfahrungen, welche in kurzer Zeit auf Levi einströmten, sodass er am Ende recht wenig Zeit hatte, um über das Geschehene nachzugrübeln. Nach dem gemeinsamen Frühstück am nächsten Morgen half Levi zusammen mit Kuwantas Söhnen auf dem Hof bei der Arbeit mit den Tieren.
Gegen Mittag nahm Kuwanta Levi beiseite und ging mit ihm in ein Gebäude, welches sich direkt neben dem Wohnhaus befand und gestern von seinen Söhnen nur flüchtig als Tafelhaus bezeichnet worden war. Levi hatte keine Ahnung, was er sich darunter vorstellen sollte und hatte auch nicht weiter nachgefragt.
„Du weißt, das Ašenta mir aufgetragen hat, dich zu unterrichten“, stellte Kuwanta fest und öffnete dabei die Tür des Gebäudes.
„Und ich denke, es ist das Beste, wenn ich damit anfange, dich das Lesen und Schreiben zu lehren.“
„Ich kann lesen und schreiben“, platzte es aus Levi heraus. Doch im nächsten Moment kam er zu dem Schluss, das diese Aussage vielleicht ein wenig voreilig gewesen sein könnte.
„Nun, zumindest da wo ich her komme...“
Levi hatte hinter Kuwanta das Haus betreten, welches offenbar aus einem einzigen großen Raum bestand. Entlang der Wände befanden sich Regale. In einigen waren zahlreiche Tontafeln aufgereiht. In anderen stapelten sich dünne Holztäfelchen, welche von bronzenen Klammern zusammengehalten wurden. 
In der Mitte des Raumes standen einige niedrige Bänke um einen Tisch herum. Kuwanta nahm eine der Tontafel von dem Tisch und reichte sie Levi.
„Kannst du das hier denn lesen?“, fragte er mit einem leicht amüsierten Schmunzeln. Levi reichte ein flüchtiger Blick auf die Tafel, ehe er verneinend den Kopf schüttelte. Aber er hatte so etwas schon einmal in einem Geschichtsbuch gesehen. Das war Keilschrift, wenn er sich nicht irrte. 
„Komm setz dich“, forderte Kuwanta Levi auf und nahm selbst auf einer der Bänke Platz. Dann nahm er einen Krug mit Wasser, welcher auf dem Tisch stand, und gab dieses in ein Gefäß neben dem Tisch, um den darin befindlichen Ton anzufeuchten. Anschließend nahm er einen Klumpen des feuchten Tons und formte daraus ein rundes Täfelchen.
Kuwanta erklärte Levi, dass dies eine Übungstafel sei, welche zum Schreibenlernen verwendet würde. Dann nahm er einen auf dem Tisch bereitliegenden Griffel aus Holz und zeigte Levi, wie man diese benutzte. Die Vorstellung, in einer Welt gelandet zu sein, in welcher es keine Bücher gab wie er sie kannte, behagte ihm nicht. Das Schreiben mit dem Griffel unterschied sich zudem grundlegend von allem, was Levi gewohnt war. 
Doch Lesen war schon immer eine von Levis liebsten Beschäftigungen gewesen und die Vorstellung, in dieser Welt nicht lesen zu können, gefiel ihm ganz und gar nicht. Deshalb war er von Anfang an recht motiviert, zumindest das Lesen der Keilschrift zu erlernen. 
Zuerst zeigte ihm Kuwanta die einzelnen Elemente, aus welchen sich die verschiedenen Keilschriftzeichen zusammensetzten. Es gab senkrechte Keile, waagerechte Keile, schräge Keile und Winkelhaken. Alle diese Zeichen wurden mit dem Griffel in den feuchten Ton der Tafel gedrückt. 
Die einzelnen Elemente bereiteten Levi keine Schwierigkeiten. Diese richtig zu den einzelnen Zeichen zu verbinden erwies sich dann schon als schwieriger. Levi stellte auch rasch fest, dass die Keilschrift wenig mit dem ihm vertrauten Alphabet zu tun hatte. Stattdessen handelte es sich wohl viel mehr um eine Art Silbenschrift. 
Sobald er das kleine Täfelchen vollständig beschrieben hatte, musste er es wieder mit Wasser aufweichen und die Zeichen darauf mit der Rückseite seines Griffels austilgen, um es neu beschriften zu können. Das Ganze erschien ihm furchtbar umständlich und unpraktisch. Aber Papier und Tinte schien man in dieser Welt offenbar nicht zu kennen. 
Dennoch machte Levi zu Kuwantas Freude rasche Fortschritte und als sie gegen Abend aufhörten, konnte er schon die Vorlagen, welche Kuwanta ihm gab, zu dessen relativer Zufriedenheit abschreiben. 

* * *

Die nächsten Tage vergingen ähnlich. Am Vormittag half Levi bei den verschiedenen Arbeiten, welche täglich anfielen. Meistens ging er dabei Pathana und Aḫuwaja zur Hand, mit welchen er erstaunlich rasch Freundschaft schloss. Auch wenn ihm diese Tätigkeiten nicht sonderlich lagen, so sah er doch ein, dass es in dieser kleinen Gemeinschaft nötig war, dass jeder mit anpackte. 
Den Nachmittag verbrachte er zumeist gemeinsam mit Kuwanta im Tafelhaus, wo er das Schreiben und Lesen der Keilschrift übte. Gegen Abend unterrichtete er dann zumeist noch seine eignen Kinder, wobei Levi deren Unterrichtsstunden ebenfalls beiwohnen musste. Allerdings hatte er oft Probleme, den Lektionen zu folgen, besonders wenn es sich dabei um Unterweisungen in Ḫattisch, Palaisch und Luwisch handelte, drei Sprachen, welche offenbar ebenfalls im Ḫatti-Land gesprochen wurden.
Aber auch in kultischen Dingen unterwies Kuwanta seine Söhne, ebenso  in Mathematik, in gewissen Dingen, die man wohl als Naturkunde bezeichnen könnte und Rechtskunde. Was wieder mehr Levis Interesse weckte, waren die Stunden, in denen Kuwanta mit seinen Söhnen offenbar berühmte literarische Werke studierte. Auch wenn diese sich stark von allem unterschieden, was Levi von zu Hause gewohnt war.
Darunter waren recht fantastisch klingende Geschichten wie das Epos des Königs Gilgameš, in welchem zahlreiche Götter, monströse oder übersinnliche Kreaturen zentrale Rollen spielten. Eine andere Geschichte erzählte von König Šarrukīn aus dem fernen Lande Akkad, welcher vor langer Zeit ein großes Reich schuf und auf einem seiner Feldzüge gar bis an die Grenzen des Ḫatti-Landes vorstieß. Einer der Nachfolger jenes großen Königs Šarrukīn mit dem Namen Naram-Sîn zog ein weiteres Mal gegen das Ḫatti-Land, wo er gegen eine Koalition aus siebzehn Königen unter der Führung des Königs von Purušḫanda kämpfte, um diesen für Verfehlungen gegen akkadische Kaufleute in seiner Stadt zu strafen.
Neben dem Tontafelschreiben lernte Levi auch noch eine andere Form der Schrift und des Schreibens kennen. Es handelte sich dabei um das Schreiben auf jene Holztäfelchen, welche Levi schon bei seinem ersten Besuch im Tafelhaus aufgefallen waren. Diese Täfelchen waren mit einer dünnen Schicht Wachs beschichtet und wurden ebenfalls mit Hilfe eines dünnen Griffels beschrieben. Die dabei verwendeten Schriftzeichen unterschieden sich von denen der Keilschriftzeichen und waren noch einmal ein völlig neues Schriftsystem, welches es zu erlernen galt. 

* * *

Zwar bereute Levi seine Entscheidung auf Ašentas Angebot eingegangen zu sein nicht grundlegend, doch musste er bald erkennen, dass sein neues Leben keinesfalls ein einfaches war, ganz im Gegenteil. Mit Pathana und  Aḫuwaja verstand sich Levi erstaunlich gut und hatte mit den beiden rasch Freundschaft geschlossen, dennoch versuchte er immer öfter, sich um die ungeliebten täglichen Aufgaben zu drücken.
Arbeit gab es auf dem Gut reichlich und für die Erledigung der meisten standen nur recht primitive Hilfsmittel zur Verfügung, weshalb diese mit ent-sprechenden körperlichen Anstrengungen verbunden waren, welche schon bald ihre Spuren an Levis Körper hinterließen. Nahezu ständig hatte er Blasen an den Händen und wenn er Abends auf seinen Strohsack fiel, müde und verschwitzt, meinte er, jeden Muskel in seinem Leib spüren zu können. Das waren die Momente, in denen er es für gewöhnlich dann doch bereute auf Ašentas Angebot eingegangen zu sein. 
Anstatt zu helfen, stahl er sich deshalb lieber nach dem Frühstück davon und streifte durch die Hügel und Berge, welche den Tempel umgaben. Zwar hatte er mittlerweile genug Geschichten von Löwen, Wölfen, Bären und anderen Raubtieren gehört, welche in den Bergen hausen sollten, doch hielt es ihn dennoch nicht davon ab, seine Erkundungstouren immer weiter auszudehnen. 
Die Landschaft wechselte oft zwischen kargen Felshängen und fruchtbaren Wiesen, aber auch dicht bewaldeten Landstrichen. Zum größten Teil waren es Zypressen und Pinien, welche in den Tälern gediehen. Es war ein wildes, vom Menschen unberührtes und unge-zähmtes Land, in welchem sich Levi wiederfand. 
Er hatte fast von Anfang an den Eindruck gehabt, der Tempel sei ziemlich abgelegen und je mehr er die Umgebung erkundete, desto mehr verstärkte sich dieser Eindruck. Im Umkreis von einer halben Tagesreise um den Tempel herum schien es tatsächlich keine weiteren menschlichen Ansiedlungen zu geben. 
Aber wie er mittlerweile von Kuwanta wusste, gab es auch in dieser Welt wohl große Städte. Pathana hatte Levi gegenüber erwähnt, dass die am nächsten gelegene Stadt den Namen Ḫattuša  trug und er bisher ein einziges Mal mit seinem Vater vor zwei Jahren dort gewesen sei. 
Von Ašenta hatte Levi auch nichts wieder gehört, geschweige denn gesehen. Doch laut Kuwanta  war dies nichts Ungewöhnliches. Levi wusste ohnehin nicht so recht, was er von Ašenta halten sollte. Von Kuwanta hatte er so einiges über die Götter des Ḫatti-Landes erfahren und nach allem, was er gehört hatte, schienen sie eher menschlicher als göttlicher Art zu sein. Zumindest war das der Schluss, zu dem Levi gekommen war. Die Götter dieses Landes waren wohl keinesfalls unsterblich, wenn er dies richtig verstanden hatte. Und wie gewöhnliche Sterbliche mussten auch sie essen und trinken. Deshalb brachte Kuwanta regelmäßig Speise- und Trankopfer vor dem Standbild Ašentas im Tempel dar. Levi hatte ihm ein paarmal beim Verrichten der kultischen Handlungen zusehen dürfen. 
Levi hing seinen Gedanken nach und reflektierte die Erfahrungen der letzten Wochen und was er in der kurzen Zeit alles über diese seltsame Welt gelernt hatte. Doch dann schweiften seine Gedanken zu etwas ab, was ihn trotz allem immer wieder beschäftigte, auch wenn er es versuchte aus seinen Gedanken zu verdrängen. Immer wieder stiegen die Bilder jenes Altars vor seinem inneren Auge auf,  die des Blutes und des reglosen Körpers und das Wissen um das, was er getan hatte. Kurz überkam ihn ein leichter Schauder, wenn er daran dachte, dass er wirklich in der Lage gewesen war ein Menschenleben auszulöschen. 
Mitleid für Martin konnte er dennoch keines empfin-den. Sobald Gefühle dieser Art in ihm aufzukommen drohten, mischten sich diese sogleich mit all den schmerzlichen Erfahrungen, welche dieser ihm bereitet hatte. Und dann konnte er deutlich den heißen Knoten des Hasses spüren, welcher in ihm aufstieg.
„Verdient hatte er es“, murmelte Levi vor sich hin und setzte, um sein Gewissen zum Schweigen zu bringen, entschlossener und lauter hinzu:
„Jawohl verdient. Das hat er sich ganz allein zuzuschreiben!“
Frustriert schüttelte Levi den Kopf, um die unan-genehmen Bilder daraus zu vertreiben und versuchte, seine Gedanken wieder auf andere Dinge zu lenken. Während er so in Gedanken mit sich rang, erklomm er langsam einen der Felshänge hinter dem Tempel. Außer vereinzeltem Eichengestrüpp, welches sich in den felsigen Untergrund krallte, war dieser fast völlig kahl. Auf der Spitze des Hanges hatte er einen herrlichen Überblick über das Tal, in welchem sich der Tempel befand. 
Er hielt einen Augenblick inne, um die Aussicht zu genießen, ehe er seinen Weg auf der jenseitigen Seite des Bergkamms fortsetzte. Nach allem was er erfahren hatte, mutmaßte er, dass er in der Zeit zurückgereist sein könnte, auch wenn dieser Gedanke ihm gelegentlich immer wieder aufs neue absurd vorkam. Viele Dinge kamen ihm aus Büchern vage bekannt vor, andere erschienen ihm aber wieder völlig fremdartig. Wenn Ašenta ihn wirklich in der Zeit zurück versetzt hatte, so war es ihm nicht möglich festzustellen, wo er hier ge-landet war.

Levi setzte seinen Weg entlang eines ihm mittlerweile recht vertrautem Pfades fort. Ein klares Ziel hatte er nicht. Er genoss lediglich die Abgeschiedenheit und die Ruhe, welche er hier draußen verspürte. Es war ein recht angenehmer Tag zum Wandern in den Bergen, der Himmel war leicht bewölkt, was die Wärme erträglich machte. Im Moment herrschte in dieser Welt wohl offensichtlich Sommer. Doch Levi hatte erfahren, dass sich dieser mit besonders in den Bergen strengen Wintern abwechselte. Kuwanta hatte erzählt, dass es nicht ungewöhnlich sei, dass sie während der Wintermonate vollständig einschneiten, sodass es unmöglich sei, das Tal zu verlassen.
Nach einer Weile kam Levi an einer Stelle vorüber, von welcher aus er in den letzten Tagen des öfteren schon einen Adler beobachtet hatte. Levi hielt Ausschau, ob er auch heute wieder das majestätische Tier zu Gesicht bekommen würde. Er befand sich auf einer Anhöhe und unter ihm breitete sich ein weiteres bewaldetes Tal aus. Der Hang auf der anderen Seite des Tals war besonders abschüssig und mit losem Geröll bedeckt. Vor einer Woche war Levi schon einmal auf der anderen Seite gewesen und hatte für sich entschieden, dass ihm die Kletterpartie an diesem Hang zu gefährlich war. 
Nachdem er mit seinen Blicken kurz den Himmel abgesucht hatte, entdeckte Levi tatsächlich den Adler. Das Tier kreiste über dem Tal, nahe des jenseitigen Hangs. Wie Levi rasch feststellte, war der Vogel dort nicht allein. Am Hang unter dem Adler entdeckte er zwei Gestalten, welche sich ihren Weg über den steinigen Untergrund suchten. Aus der Entfernung waren sie nur schwer zu erkennen, dennoch blieb Levi stehen, um die beiden Gestalten zu beobachten. Es war das erste Mal, dass er hier draußen Menschen erblickte und überhaupt das erste Mal, dass er in dieser Welt Menschen sah, die nicht zu Ašentas Tempel gehörten.
Levi beobachtete, wie einer der beiden Männer auf der anderen Seite einen Bogen zur Hand nahm und auf den Adler über sich zielte. Aus der Distanz konnte Levi die Bahn des Geschosses nicht erkennen. Doch als der Adler gleich darauf einen empörten Schrei ausstieß, welcher von den Felswänden ringsherum widerhallte, und eilig abdrehte, ging Levi davon aus, dass der Mann das Tier verfehlt hatte.  
Während der Adler rasch entschwand, setzten sich die beiden Gestalten auf der anderen Seite des Tales wieder in Bewegung. Levis Aufmerksamkeit galt nun wieder mehr den Fremden als dem Adler. Er wusste nach wie vor nicht sonderlich viel über diese Welt. Doch die beiden waren offenbar bewaffnet und so drängte sich Levi die Frage auf, ob von den beiden nicht vielleicht eine Gefahr ausginge. Vielleicht wäre es das Beste, so schnell wie möglich zum Tempel zurückzukehren und Kuwanta von seiner Beobachtung zu unterrichten. 
Doch noch während Levi zögerte, schien einer der beiden Männer auf dem abschüssigen Hang ins Straucheln zu geraten. Vielleicht hatte sich einer der losen Steine unter seinen Füßen gelöst. Das konnte Levi aus der Distanz nicht erkennen. Vergeblich versuchte der Mann das Gleichgewicht wiederzugewinnen. Sein Kamerad streckte seine Hand aus, um ihn zu halten, doch vergeblich, er wurde vom Gewicht des anderen mitgerissen. Die beiden Männer stürzten in die Tiefe. Einer der beiden blieb kurz darauf auf einem kleinen Vorsprung liegen, während der andere noch weiter abstürzte. Wo dieser zum Liegen kam, konnte Levi nicht sehen, denn die Bäume im Tal verdeckten seinen Blick auf den Verunglückten.
Ein wenig fassungslos und entsetzt beobachtete Levi, was sich am jenseitigen Hang abspielte. Unschlüssig blieb Levi stehen. Der erste der beiden Männer auf dem Vorsprung schien sich zu regen, machte aber keine Anstalten wieder auf die Beine zu kommen. Auch er war mindestens mehrere dutzend Meter den Hang hinunter geschlittert. Beinahe unmöglich, dass er sich dabei nicht verletzt hatte. Levi war sich unsicher. Sollte er den beiden Verunglückten zu Hilfe kommen oder doch lieber umgehend zum Tempel zurückkehren, wie er es zuerst vorgehabt hatte? Schließlich wusste Levi nicht, ob die beiden Fremden vielleicht eine Gefahr für ihn darstellten.
Doch dann gab er sich einen Ruck und begann mit dem Abstieg ins Tal. Wenn die beiden wirklich verletzte waren, dann konnte er sie nicht einfach hier liegen lassen.

Als Levi die andere Seite des Tales erreichte, entdeckte er als erstes den zweiten Mann, welcher tiefer gefallen war. Er lag am Fuße des Hanges, dort wo das steinige, beinahe kahle Gelände, in das Wäldchen überging. 
Reglos lag der Mann auf dem Bauch und rührte sich nicht. Der Kopf befand sich in einer seltsam anmutenden verdrehten Position. Zögerlich trat Levi näher. Aus einer Wunde am Kopf des Mannes strömte Blut und färbte den Stein unter ihm rot. Behutsam kniete Levi neben dem Mann nieder und berührte ihn sacht an der Schulter. Nun aus der Nähe bemerkte Levi die große klaffende Wunde an der Stirn des Mannes. 
So recht wusste er nicht, was er in einer solchen Situation tun sollte. Levi hatte herzlich wenig Erfahrung damit und noch nie Erste Hilfe leisten müssen. Sie hatten einmal in der Schule darüber gesprochen, doch es hatte ihn nicht wirklich interessiert. Folglich hatte er auch nicht aufgepasst. Erst einmal galt es wohl herauszufinden, ob der Mann überhaupt noch lebte. Levi tastete nach der rechten Hand des Mannes und versuchte dessen Puls zu fühlen. Er war sich nicht sicher, ob er es richtig machte, doch auf jeden Fall konnte er nichts fühlen. 
Wenn der Mann keinen Puls mehr hatte, konnte er wahrscheinlich ohnehin nichts mehr für ihn tun. Levi beschloss, lieber den Hang hinaufzusteigen und nach dem Kameraden des Verunglückten zu suchen. Dieser hatte sich immerhin noch bewegt, als er ihn das letzte Mal von der anderen Seite aus gesehen hatte. 
Levi richtete sich wieder auf und begann, den Hang empor zu steigen. Dabei achtete er genau darauf, wohin er trat, um am Ende nicht selbst das Schicksal der beiden Fremden zu teilen. Immer wieder lösten sich einzelne Steine unter seinen Füßen und polterten talwärts.
Eine Windbö strich über den Hang und trug ein qualvolles Stöhnen zu Levi herüber. Levi folgte dem Geräusch und entdeckte wenig später den Vorsprung, den er suchte. Direkt neben dem Vorsprung war das Gelände besonders schwierig und Levi musste einen kleinen Umweg nehmen, ehe er endlich sein Ziel erreichte.
Der Verunglückte hatte es geschafft sich aufzusetzen und lehnte mit dem Rücken an einem größeren Felsblock. 
„Šipanti?“, murmelte er ein wenig benommen, als er Levis Schritte vernahm und hob den Kopf. Verwirrung trat in seinen Blick, als er Levi erblickte. Dieser war am Rande des Vorsprungs stehen geblieben und musterte den Fremden abschätzend. Aus der Nähe erkannte er, dass dieser wohl kaum älter als er selbst sein mochte. Wahrscheinlich sogar noch etwas jünger.
„Wer bist du? Und was ist mit Šipanti passiert?“
„Du meinst deinen Begleiter nehme ich an?“, erkundigte sich Levi vorsichtig, während er vorerst blieb, wo er war. Bis auf einige Schrammen und Schürfwunden schien sein Gegenüber auf den ersten Blick unversehrt zu sein. Auf Levis Frage hin nickte der andere nur knapp.
„Er liegt unten am Fuße des Hanges... ich... konnte ihm nicht mehr helfen.“ 
Der Verletzte gab ein schmerzhaftes Stöhnen von sich und nickte leicht.
„Kannst du mir helfen? Ich glaube mein Bein ist gebrochen...“, richtete er nach einem Moment der Stille erneut das Wort an Levi.
„Deshalb bin ich hier. Ich habe von der anderen Seite des Tales aus gesehen, wie ihr abgestürzt seid. Nicht weit von hier ist ein kleines Heiligtum. Wenn wir es bis dorthin schaffen, wird man dir helfen.“
„Dich schicken wahrlich die Götter“, murmelte der Jüngling und versuchte, sich langsam am Felsen aufzurichten. Ohne weiter zu überlegen eilte Levi an seine Seite, um ihm zu helfen und zu stützen. Wie sie beide allerdings heil den Hang hinunter kommen sollten, das wusste Levi auch noch nicht so recht.

Später hätte Levi nicht mehr sagen können, wie sie es geschafft hatten, den Hang hinunterzukommen, ohne sich dabei den Hals zu brechen. Doch auf jeden Fall hatten sie es heil hinunter geschafft. Der Rückweg zum Tempel erwies sich nun aber als schwerer und anstrengender, als Levi sich vorgestellt hatte. Als sie den jenseitigen Hang erglommen hatten, musste sich der Fremde erst einmal ausruhen und auch Levi war eine kurze Verschnaufpause ganz willkommen, hatte er den Verletzten doch abschnittsweise mehr getragen als nur gestützt. Der Fremde mochte kleiner als Levi sein, doch sein Gewicht schien immer mehr zuzunehmen.
„Verrätst du mir deinen Namen?“, fragte Levi, während er sich auf einem Felsen niederließ und seinen Blick hinunter ins Tal schweifen ließ. 
„Ich heiße Labarna“, erwiderte der Fremde und setzte hinzu:
„Und ihr?“
„Levi.“
Labarna quittierte die Antwort lediglich mit einem leichten Nicken.
„Was habt ihr hier draußen gemacht?“, forschte Levi vorsichtig weiter nach. Levi fand, dass er ein Recht hatte zu erfahren, was die beiden Männer in die Nähe des Tempels geführte hatte, wenn er ihm schon half. 
„Wir waren jagen... Ich besitze ein Landgut etwa eine halbe Tagesreise gen Mitternacht von hier. Unseren Wagen mit den Pferden haben wir jenseits des Kamms zurückgelassen“, gab Labarna bereitwillig Auskunft und wies zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Levi wusste nicht so recht, was er mit diesen Informationen anfangen sollte, also nickte er nur leicht. 
„Kannst du weitergehen? Es ist nicht mehr weit.“
Noch immer wusste Levi nicht, was er von all dem halten sollte. Kuwanta würde wohl eher wissen was zu tun war. 
„Ja, lass uns weiter gehen“, entgegnete Labarna und Levi half ihm wieder auf die Füße, wobei Labarna kurz schmerzhaft das Gesicht verzog. 
„Nur noch ein kleines Stück. Wenn wir das Ende des Kammes erreichen, können wir den Tempel bereits sehen.“

Schließlich erreichten sie den Tempel. Der Hof lag völlig verlassen da, weshalb Levi mit Labarna sogleich das Wohnhaus ansteuerte. Er hoffte Maraliya dort zu finden.
Levi stieß unsanft mit dem Ellenbogen die Tür auf und trat ein. 
„Maraliya?“, rief er in die Küche hinein, während seine Augen einen Moment brauchten um sich an das Halbdunkel im Inneren des Hauses zu gewöhnen.
„Levi? Wo hast du denn schon wieder gesteckt? Kuwanta hat nach dir gesucht“, erklang Maraliyas Stimme aus der Küche. Nun, es wäre nicht das erste Mal, dass er sich Ärger einhandelte, weil er sich wieder einmal davongestohlen hatte. Maraliya erschien mit ärgerlicher Mine im Durchgang, welcher in die Küche führte. Doch als sie Labarna erblickte, änderte sich ihr Gesichts-ausdruck sogleich.
„Ich habe ihn oben in den Bergen gefunden. Sein Name ist Labarna. Er ist bei der Jagd verunglückt. Wir glauben, sein Bein ist gebrochen.“
„Komm, bringen wir ihn erst einmal hinüber in die Schlafkammer, damit er sich hinlegen kann“, beschied Maraliya und half Levi, den Verletzten hinüber zu bringen.
„Und jetzt geh und gib Kuwanta Bescheid. Er ist mit den Kindern unten auf der Weide bei den Rindern“, trug sie ihm auf, nachdem sie Labarna auf eines der Lager gebettet hatten. Levi nickte und eilte davon.

Kuwanta war, als er Levi sah, offenbar ebenfalls nicht begeistert darüber, dass dieser sich wieder einmal davongeschlichen hatte. Doch als Levi ihm schilderte, was in den Bergen passiert war, verflog sein Ärger. 
Auch  Pathana und Aḫuwaja lauschten neugierig. Es war ihnen anzusehen, dass sie am liebsten auch mit zurück zum Haus gekommen wären, doch Kuwanta trug ihnen auf, bei den Tieren zu bleiben. Neidvoll sahen sie Levi und ihrem Vater nach, als die beiden zurück zum Tempel gingen. 
Als sie zurück zum Haus kamen, war Maraliya noch dabei, sich um Labarnas Verletzungen zu kümmern. Sie hatte bereits seine Schürfwunden mit Wein ausgewaschen und anschließend verbunden. Nun war sie gerade dabei, sich das verletzte Bein näher anzusehen. 
Kuwanta trat ans Lager des Verletzten und begrüßte ihn freundlich. Levi hielt sich im Hintergrund, während er den Wortwechsel zwischen den beiden verfolgte. Gemeinsam mit seiner Frau richtete er das gebrochene Bein und Maraliya legte Labarna eine Schiene an.
Bewundernd beobachtete Levi Maraliya bei ihrem Tun. Offenbar war es nicht das erste Mal, dass sie solche Verletzungen versorgte.
„Levi erwähnte einen Wagen und Pferde“, stellte Kuwanta fest, nachdem sie sich um Labaranas Bein gekümmert hatten. Dieser nickte und beschrieb Kuwanta, wo sie die Tiere zurückgelassen hatten.
„Ich werde jetzt gleich mit meinem Knecht losgehen und nach eurem Begleiter sehen und eure Pferde herüberführen.“
„Ich glaube nicht, dass sie über den Bergkamm kommen“, meldete sich nun Levi zaghaft zu Wort.
„Es gibt einen Weg außen herum“, entgegnete Kuwanta und fuhr dann an Labarna gewandt fort:
„Und morgen werde ich meinen ältesten Sohn zu eurem Landgut schicken, um eure Diener zu benachrichtigen.“
„Ich schulde euch und den euren meinen Dank, Meister Kuwanta“, erwiderte Labarna mit einem dank-baren Lächeln und sein Blick wanderte kurz hinüber zu Levi.
„Und natürlich besonders euch, mein Freund.“

* * *

Levi hatte sich erboten, Kuwanta und Ešandri zu der Stelle zu führen, wo die beiden Jäger verunglückt waren. Doch Kuwanta erwiderte, dass er die Stelle auch so finden würde. Levi sollte bei Maraliyas bleiben und ihr zur Hand gehen.
Es dauerte bis zum Abend, ehe Ešandri und Kuwanta mit den Pferden und dem Wagen zurückkehrten. Es handelte sich um einen zweirädrigen Streitwagen. Auf dem Wagen lag der tote Körper des Mannes, bei welchem es sich wohl um eine Art Leibwächter gehandelt hatte. Kuwanta meinte, dass Levis Einschätzung wohl richtig gewesen war. Abgesehen von der klaffenden Kopfwunde hatte sich Šipanti beim Absturz wohl auch das Genick gebrochen und war wahrscheinlich sofort tot gewesen.
Am nächsten Morgen machte sich Pathana auf den Weg, wie Kuwanta es Labarna versprochen hatte und Levi durfte ihn begleiten. Maraliya hatte ihnen ein wenig Proviant zusammengepackt und sie brachen kurz nach Sonnenaufgang auf. In den frühen Morgenstunden war es noch angenehm kühl, doch der Himmel war im Gegensatz zum Vortag gänzlich wolkenlos und so versprach es ein heißer Tag zu werden. 
„Tut gut, mal wieder dem öden Alltag zu entliehen“, stellte Pathana mit einem gut gelaunten Grinsen fest, während die beiden gemeinsam in Richtung Osten wanderten. 
„Da widerspreche ich dir nicht“, erwiderte Levi schmunzelnd. 
„Obwohl... du musst ja eigentlich gar nicht klagen“, scherzte sein Begleiter und knuffte Levi gutmütig in die Seite:
„Würde ich mich ständig davonstehlen, wie du's zu tun pflegst, würde mir das nicht gut bekommen. Aber dir lässt's mein alter Herr durchgehen.“
Levi lachte leise, wollte das Thema aber eigentlich nicht weiter vertiefen. Es war ihm bewusst, dass es eigentlich reichlich undankbar war, sich ständig vor der Arbeit zu drücken. Besonders nachdem ihn Kuwantas Familie so herzlich bei sich aufgenommen hatte. Deshalb wechselte er lieber das Thema.
„Und du weißt, wo sich das Landgut befindet?“, erkundigte er sich deshalb.
„So in etwa. Ich war mit meinem Vater schon ein paarmal in der Gegend“, erwiderte Pathana und fügte zuversichtlich hinzu:
„Wir werden's schon finden.“

* * *

Gegen Mittag erreichten sie ein kleines Dorf, in welchem Pathana den Weg erfragen konnte. Levi hatte Ašentas Tempel als recht heruntergekommen und ärmlich empfunden. Und das mochte er auch sein. Doch die kleine Siedlung, welche er nun zu Gesicht bekam, hätte dem Vergleich mit Ašentas Heiligtum in keinster Weise standgehalten. 
Ein dutzend armseliger Lehmhütten mit stroh-gedeckten Dächern schmiegte sich an einen der Berghänge. Als sie sich den Hütten näherten, schien die Luft einen fauligen Geruch anzunehmen. Es roch nach Zwiebeln, Schafen, Dung und kaltem Rauch. Im Dreck zwischen den Hütten tollten mehrere nackte Kinder herum und zwei abgemagerte Köter balgten um einen Knochen. Levi kam nicht umhin, sich die Frage zu stellen, mit was für Ungeziefer diese Menschen wohl ihre Wohnstatt teilen mochten. 
So weit Levi es beurteilen konnte, schienen die Menschen hier einzig von der Viehzucht zu leben. Ihre Herden aus Ziegen und Schafen weideten auf den Bergwiesen rings um das Dorf. Der Anblick dieses Ortes bereitete Levi Unbehagen und so war er froh, als Pathana seine Auskunft erhalten hatte und sie sich wieder auf den Weg machten.
Sie hatten Glück, dass Dorf, durch welches sie gekommen waren, gehörte offenbar bereits zum Landgut Labarnas und sie erreichten dieses nach einer weiteren halben Stunde Fußmarsch. Beim Anblick des Gutes, welches eingerahmt von Feldern, Obstgärten und Plantagen in einem kleinen Talkessel lag, musste Levi unwillkürlich den Kopf schütteln.
„Was hast du?“, fragte Pathana, welchem die Geste seines Begleiters nicht entgangen war. 
„Nichts...“, murmelte Levi nur, während er seinen Blick über die Häuser des Gutes schweifen ließ. Einstöckige flache Bauten, deren Wände sorgfältig mit weißem Kalk verputzt waren und in der Sonne leicht zu leuchten schienen. Das ganze Anwesen strahlte Ordnung und Sauberkeit aus. Der Wind trug einen sanften süßlichen Geruch von den Obstgärten zu den beiden Wandernden hinüber. 
„Ich habe das Landgut in Gedanken nur gerade mit dem Dorf verglichen, durch welches wir eben gekommen sind“, setzte er nach einem Moment der Stille dann doch noch hinzu.
Nun war es Pathana, welcher Levi mit einem leichten Kopfschütteln bedachte. 
„Manchmal bist du schon ein wenig seltsam“, stellte er amüsiert fest, während sie auf das Landgut zusteuerten.
„Gibt es da, wo du herkommst, etwa keinen Unter-schied zwischen arm und reich, zwischen Herren und Knechten?“
Levi erwiderte nichts darauf. Aber wenn er darüber nachdachte, musste er Pathana wohl in gewisser Weise Recht geben. Zuhause war ihm das wohl nie so deutlich bewusst geworden. Auch dort hatte es Ungleichheit gegeben. Nur hier schien sie ihm auf einmal viel stärker aufzufallen. 

Als sie das Landgut erreichten, blieb Levi lieber im Hintergrund und überließ es Pathana, ihr Anliegen vorzutragen. Zum einem hatte ihm so etwas noch nie gelegen, auf der anderen Seite war er auch nicht wirklich mit der Etikette und den Gepflogenheiten dieser Welt vertraut. Und bevor er sich und Pathana erst durch einen unwissentlich begangenen Fehler in Schwierigkeiten brachte, zog er es lieber vor zu schweigen. 
Glücklicherweise kam Pathana offenbar ganz gut allein zurecht. Sie wurden von einem Mann namens Marattis empfangen, welcher offenbar sichtlich erleichtert war, Nachricht über den Verbleib seines Herrn zu erhalten. 
Während er sich berichten ließ, was vorgefallen war, ließ er von einer Dienerin den beiden eine Erfrischung bringen. Skeptisch beäugte Levi den Inhalt des Bechers, welchen man ihm reichte, als er merkte dass es sich dabei wohl um Wein handelte. Bei Kuwantas Familie hatte er mittlerweile die Erfahrung gemacht, dass das Bier, welches dort getrunken wurde, offenbar kaum Alkohol enthielt und ihr bevorzugtes Getränk war, da man es im Gegensatz zu Wasser, welches schnell schlecht wurde, über längere Zeit aufbewahren konnte.
Doch mit Wein hatte Levi überhaupt keine Er-fahrungen. Vermutlich war es jedoch unhöflich, den angebotenen Trunk abzulehnen. Also probierte Levi vorsichtig einen Schluck aus seinem Becher. Er stellte fest, dass der Wein einen süßen fruchtigen Geschmack hatte und keineswegs nach Alkohol schmeckte. Dennoch beschloss er, den Becher lieber nicht ganz auszutrinken. 
Levi lauschte Pathanas Worten und ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Es schien sich um eine Art Wohnraum zu handeln. Der Raum wurde von einem großen Tisch dominiert, dessen vier Füße zu Löwentatzen geformt waren. Um den Tisch herum standen einige Stühle, einer davon war erhöht und war wohl dem Hausherrn vorbehalten. In einer Ecke des Raumes befand sich ein kleiner Altar und ein Räucherbecken. Darüber thronte eine kleine goldene Götterfigur. Auf einem Sims waren mehrere kunstvoll bemalte Vasen aufgereiht, doch sonst wirkte der Raum schlicht und bescheiden.
„Schaffen wir's mit den Wagen bis Sonnenuntergang zu eurem Tempel?“, erkundigte sich Marattis schließlich, nachdem Pathana geendet hatte.
„Ja, wenn wir bald aufbrechen Herr“, erwiderte Patha-na und leerte den letzten Schluck aus seinem Becher. 
„Dann werde ich den Knechten auftragen, die Wagen anzuspannen. Ihr könnt inzwischen hier warten und euch noch etwas ausruhen“, bestimmte Marattis und verließ raschen Schrittes den Raum.
„Der scheint es ja ziemlich eilig zu haben“, stellte Levi leise fest, nachdem Marattis außer Hörweite war und sah diesem nach. 
„Dieser Marattis scheint wohl für das Wohlergehen seines Herrn verantwortlich zu sein“, entgegnete Pathana.
„Und ich bin mir zwar nicht sicher... aber wenn ich raten müsste, dann würde ich sagen, dass es sich bei diesem Labarna um den Sohn eines wichtigen Würden-trägers aus der Umgebung handelt.“
„Darüber hat Labarna kein Wort verloren“, stellte Levi fest, während er den Becher in seiner Hand betrachtete. Es war ein einfacher schmuckloser Tonbecher, wie er auch im Hause von Kuwanta verwendet wurde.
„Wer weiß. Vielleicht hat er seine Gründe“, entgegnete Pathana mit einem leichten Schulterzucken und leerte den restlichen Inhalt seines Becher mit einem langen Zug.
Es dauerte nur eine halbe Stunde, bis die Wagen bereit standen. Drei Gespanne von der Art, wie sie Levi bereits von Labarnas Wagen her kannte, warteten auf dem Hof. Die Pferde vor den Wagen waren in Levis Augen auffällig klein. Er hätte sie wohl eher als Ponys bezeichnet, aber er machte sich darüber keine weiteren Gedanken. Mittlerweile hatte er sich daran gewöhnt, dass die meisten Nutztiere hier deutlich kleiner waren, als er es von zuhause gewohnt war.
Auf jedem der Wagen war Platz für zwei Passagiere. Während Pathana zu Marattis auf den ersten Wagen stieg, stieg Levi auf den zweiten Wagen. Der Lenker des Wagens war ein kräftig gebauter älterer Mann mit beträchtlichem Bartwuchs. 
Levi beobachtete den Mann mit einem abschätzenden Blick. Für ihn machte er nicht gerade den Eindruck eines besonders angenehmen Zeitgenossen. Schweigend stand Levi hinter dem Mann auf dem Wagen und ließ seinen Blick umherschweifen. Während der gesamten Fahrt wechselte er mit dem Wagenlenker kein Wort. Im Gegensatz zu ihm schien sich Pathana auf dem vorderen Wagen  mit Marattis gut zu unterhalten. 
Mit den Wagen mussten sie einen anderen Weg über die Hochebene nehmen, als Levi und Pathana gekommen waren. Doch nach dem langen Fußmarsch war Levi diese Art zu reisen doch recht willkommen. Noch immer war es sengend heiß und der Wagen bot keinerlei Schutz vor der Sonne. Nur der Fahrtwind brachte ein klein wenig Abkühlung. 
Es begann bereits zu dämmern, als der Tempel all-mählich in greifbare Nähe rückte. 

* * *

Marattis und seine Begleiter verbrachten die Nacht im Tempel, ehe sie am nächsten Morgen mit ihrem jungen Herrn zu dessen Landgut zurückkehrten. Auch wenn das Reisen auf dem Wagen  für Labarna mit seinem gebrochenen Bein sicherlich nicht angenehm werden würde, so hatte er selbst die Absicht bekundet, so schnell wie möglich auf sein Landgut zurückzukehren. 
Kuwantas kleine Familie hatte sich auf dem Hof vor dem Wohngebäude versammelt, um ihre Gäste zu verabschieden. Mit Marattis Hilfe hatte sich Labarna auf dem Wagenkorb des ersten Gespanns niedergelassen. Nun, nachdem er so gut es eben ging auf dem Wagen saß, richtete er das Wort an Kuwanta. 
„Meister Kuwanta, ich bin euch und den euren für eure Hilfe zu Dank verpflichtet“, begann er und gab während er sprach Marattis ein knappes Zeichen, woraufhin dieser einen kleinen Lederbeutel von seinem Gürtel löste und Kuwanta reichte. 
„Nehmt dies als eine kleine Spende für euren Tempel“, setzte Labarna dabei hinzu, ehe sein Blick hinüber zu Levi wanderte, welcher ein Stück abseits von Kuwanta zusammen mit dessen beiden Söhnen stand. 
„Dir gebührt mein Dank besonders. Ich weiß nicht, ob ich ohne deine Hilfe von diesem Berg herunter-gekommen wäre“, fuhr er mit einem leichten Lächeln fort.
„Sollte es der Wille der Götter sein, dass sich unsere Wege erneut kreuzen, werde ich versuchen, dir deine Tat zu vergelten.“
Levi waren die Worte seines Gegenübers ein wenig unangenehm. Seitdem er wusste, dass Labarna in dieser Welt offenbar eine herausragende Stellung einnahm, war er in dessen Gegenwart ein wenig befangen. 
„Ich habe nur getan, was jeder an meiner Stelle getan hätte, mein Herr“, wehrte Levi deshalb ab, ohne Labarna dabei direkt anzusehen. Dieser quittierte Levis Worte mit einem wohlwollenden Schmunzeln und wandte sich nun wieder Marattis zu:
„Nun denn, dann lass uns fahren, damit wir die kühlen Morgenstunden nutzen.“
Die Wagen rollten vom Hof und waren schon bald hinter der Tempelanlage verschwunden. Nachdem die Wagen nicht mehr zu sehen waren, öffnete Kuwanta den Lederbeutel, welcher mehrere Sekel Silber enthielt. Ein zufriedenes Lächeln umspielte seine Mundwinkel, während er die Silberstücke durch seine Finger gleiten ließ. Dieses Silber war ein kleiner Segen für ihn und die Seinen. Damit würde er, wenn er das nächste mal in Ḫattuša wäre, kaufen können, was sie hier selbst nicht herstellen konnten.
Kuwanta befestigte den Beutel an seinem Gürtel und wandte sich dann Levi und seinen Söhnen zu.
„Bevor du wieder auf den Gedanken kommst dich davon zu stehlen, bring mit Aḫuwaja und Pathana die Rinder auf die Weide“, trug er Levi auf. Dieser nickte und verschwand gemeinsam mit Kuwantas Söhnen in Richtung der Stallungen. 

* * *

Über die Zeit hinweg begann sich Levi zunehmend an die Umstände seines neuen Lebens bei Kuwantas Familie zu gewöhnen. Die ungewohnte körperliche Arbeit hatte ihn kräftiger werden lassen und hätte er sich selbst in einem Spiegel sehen können, hätte er sich wohl selbst kaum wiedererkannt. Doch nur weil er sich daran gewöhnte, hieß es nicht, dass er sich nicht weiterhin regelmäßig davonstahl, wenn sich die Gelegenheit dazu bot.
Der Sommer verging und als die Erntezeit hereinbrach, gab es für die wenigen Bewohner des Tempels so viel Arbeit, dass selbst Levi sich nicht vor dieser zu drücken wagte. Auch ihm war mittlerweile klar, dass für den abgeschiedenen Tempel eine gute Ernte wichtig war, wollten sie nicht während des Winters Hunger leiden. 
Sie hatten von früh bis spät alle Hände voll damit zu tun, die Ernte einzubringen, sodass auch für den sonst üblichen Unterricht keine Zeit blieb. Während Levi gemeinsam mit Maraliya und ihren beiden Söhnen auf dem Feld das Getreide schnitt, droschen Kuwanta und Ešandri dieses auf der eigens dafür angelegten Tenne auf dem Hof mithilfe von Dreschstöcken. Dies war eine langwierige und besonders kräftezehrende Aufgabe, wie Levi rasch klar wurde. Da war er doch recht froh darüber, dass es seine Aufgabe war, gemeinsam mit dem Rest der Familie das reife Getreide auf dem Feld zu schneiden. Auch wenn ihm jeden Abend aufs neue von der Arbeit mit der bronzenen Sichel in gebückter Stellung der Rücken schmerzte.

Die Tage wurden nun auch zunehmend kühler und feuchter. Nach einem kurzen Herbst brach der Winter über das Hochland herein und Levi stellte rasch fest, dass seine Gastfamilie nicht übertrieben hatte, wenn sie von den strengen Wintern im Ḫatti Land gesprochen hatten. 
Nach einigen Wochen mit intensivem Schneefall waren die Schneeverwehungen in den Pässen so hoch, dass es nahezu unmöglich war, diese zu passieren. 
Während des Winters war es deshalb so gut wie unmöglich, das Tempelgelände zu verlassen. Kuwantas Familie verbrachte viel Zeit gemeinsam im Wohn-gebäude. Um Feuerholz zu sparen, unterrichtete Kuwanta seine Kinder in dieser Zeit auch nicht im Tafelhaus, sondern hatte alles dafür Nötige herüber ins Wohnhaus gebracht. 
Wenn Levi schon während der Sommermonate die Beengtheit des Wohnhauses von Zeit zu Zeit  lästig geworden war, so war der Winter für ihn noch um einiges unangenehmer. Konnte er jetzt doch nur schwerlich allein hinauf in die Berge gehen, wenn er etwas Ruhe und Abgeschiedenheit haben wollte. So war Levi froh, als es endlich wieder wärmer wurde und die Schneemassen im Tal allmählich zu schmelzen begannen.
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