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Welche Geschichten sind eure Favoriten? (Abgabe mehrerer Stimmen möglich!!)

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Stimmen insgesamt: 8
 
Umfrage beendet
Akeem
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Kurzgeschichten-Wettbewerb - Gerechtigkeit Empty Kurzgeschichten-Wettbewerb - Gerechtigkeit

19.01.22 20:22
Edit: 28.02.2022


Abgaben:



Abstimmung läuft bis Sonntag Abend ca. 19:00 Uhr.

Hallo Bewohner*innen,

nächste Runde steht an! Ihr habt gewählt und los geht's!

Das Thema dieses Mal ist: Gerechtigkeit
Die Interpretation des Themas ist wie immer völlig frei und alle, die möchten, können mitmachen.

Hier nun die wichtigsten Fakten:

Die Geschichte ist bis zum 27.02.2022 23:59 Uhr einzureichen. 
Alle weiteren Regeln findet ihr hier:
https://anime.forumieren.de/t5871-aktuelles-regelwerk-kurzgeschichten-wettbewerbe

Bitte lest und beachtet diese vor der Abgabe.

Feb 27, 2022 23:59:59$https://data.whicdn.com/images/112352708/original.gif$font-size:30px;text-shadow: 1px 1px black;


Zuletzt von Akeem am 28.02.22 19:47 bearbeitet; insgesamt 13-mal bearbeitet
Akeem
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Kurzgeschichten-Wettbewerb - Gerechtigkeit Empty Re: Kurzgeschichten-Wettbewerb - Gerechtigkeit

20.02.22 20:32
Es gibt eine Woche Verlängerung, damit noch ein paar mehr abgeben können.
Akeem
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Kurzgeschichten-Wettbewerb - Gerechtigkeit Empty Re: Kurzgeschichten-Wettbewerb - Gerechtigkeit

28.02.22 19:13
Was wir haben


„Das ist ungerecht!“, beklagt sich das Kind, seiner Mutter am Mantel ziehend. In den Augen der Frau spiegeln sich die Sorgen ihres Alltags, die Gründe, die Kinder nicht verstehen. Vor zwei Wochen wurde ihr der Job gekündigt, vor zwei Jahren ist ihr Mann plötzlich gestorben und sowieso ist sie überfordert und findet das alles auch nicht gerecht. Doch sie kann ihrem Sohn nicht antworten, dass das Leben mit ihr noch viel ungerechter umgesprungen sei als mit ihm, der sich beklagt nicht den angesagten, teuren Sportschuh bekommen zu haben. 


„Mehr ist im Moment einfach nicht drin…“, sagt sie leise mit trauriger Stimme. Als sie Schwanger war hat sie es ihm versprochen, in den schweren Wochen vor und nach der Geburt hat sie ihm gesagt, das er ein gutes, unbeschwertes Leben führen würde. Ungerecht, dass das Leben anders geplant hat. Sie seufzt. Sie hätte damals nichts versprechen sollen, hätte sich nicht darauf verlassen sollen, das alles seinen Lauf nimmt. Der Junge knurrt verständnislos und stapft voran. 


Als sie Zuhause angekommen sind geht er sofort auf sein Zimmer, mit knallender Tür. Ein Bilderrahmen fällt von der Wand und zersplittert auf dem ausgelatschten Teppich. Sie hebt das Bild aus den Scherben, ein Schnappschuss aus einem Urlaub vor Jahren, als ihr Sohn noch nicht geboren und ihr Mann noch nicht gegangen war. Sie wendet das vergilbte Papier und entdeckt einen Satz in der Schrift ihres Mannes, Kugelschreiber auf Erinnerung. 


„Liebe was war, was ist und was sein wird.“, steht dort. 


Wie soll ich denn… Fragt sie sich und merkt, das ihr Tränen in die Augen treten. Schluchzend bleibt sie auf dem Boden sitzen, zwischen den Scherben ihrer Vergangenheit.


„Hättest du mir geraten zu lieben was sein wird, wenn du gewusst hättest, wie es sein wird?“, flüstert sie gebrochen und zweifelnd. 


Plötzlich legt sich eine Hand auf ihre Schulter und sie fährt zusammen. Keine Geister, ihr Sohn. „Wein nicht, Mama. Das wollte ich nicht. Ich kann auch mit den Schuhen besser sein als die anderen.“, verspricht er hochmütig aber schuldbewusst und sie lächelt ihn an. „Ich weine nicht wegen dir. Ich weine, weil ich es ungerecht finde, das Papa nicht mehr da ist.“, gesteht sie ihm vorsichtig und beobachtet, wie sich sein Blick trübt. „Aber weißt du was, er hat mir heute was gesagt, von da wo er jetzt ist. Und das hat mir geholfen. Wir sollen das schätzen was wir haben. Wir haben uns. Und er ist heimlich bei uns und sorgt dafür, das wir glücklich sind und bleiben.“


Ihr Sohn schließt sie in die Arme und ihr Herz bleibt fast stehen, als sie auch die Umarmung ihres Mannes zu spüren glaubt. „Du hast recht.“, sagt das Kind leise in ihr Ohr. Er hat es auch gemerkt.


Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit passiert oftmals einfach. Der Umgang damit, mit beidem, ist das was zählt. Wie schwer es auch sein mag.
Akeem
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Kurzgeschichten-Wettbewerb - Gerechtigkeit Empty Re: Kurzgeschichten-Wettbewerb - Gerechtigkeit

28.02.22 19:14
Die Hand, die dich verfehlte

Zusammenreißen. Nüchternen Blick beibehalten, die Stimme so kontrollieren, dass das Erzittern des Unterkiefers erst beim Schweigen eintritt. Die Tränen zurückhalten, auch wenn es ein Akt der Unmöglichkeit war. Die To-Do-Liste des heutigen Tages war ellenlang. Doch wenn sie eines war, dann war sie unnötig. Warum verstellen? Die Sympathie gegenüber seiner Familie war sowieso dem Untergang geweiht. Denn sie alle standen in Verbindung mit Teagan Schwartz. Die Teagan Schwartz, um welche es heute ging. Er wollte nicht hier sein. Wer stand schon gerne vor einem Richter? Einen, der zigtausende Verbrecher bereits hinter Gitter gebracht hatte, einer, der dabei keine Miene verzog und unmenschlicher wirkte, als Teagan selbst. Nein, dies war sein Job. Wenn er Gefühle zeigte, hinterfragte man seine Professionalität und Autorität. Das Herz hämmerte wie wild, Noah – der Bruder der Angeklagten – umfasste das weite Hemd in Brustgegend, auch wenn es keinen Halt gewährte. Seit Tagen fühlte sich sein Dasein so an, als würde es kilometerweit tief fallen. Ein Fall ohne Aufprall. Ob Teagan bereits aufgeprallt war? Die dunkelbraunen Iriden huschten langsam nach rechts, zu seiner Schwester. Sie wirkte leer, der Verstand bereits meilenweit von ihrer physischen Hülle entfernt. Die Haut fahl, Augenringe, die von ihrer wunderschönen Augenfarbe ablenkten, die chaotisch hochgebundenen Haare. Am Ansatz bereits leicht fettig, am Hals einige Schürfwunden – ihre Kette fehlte. Ein Mädchen, was so unschuldig aussah, brachte Dinge zustande, die man ihr im Leben nicht zutrauen könnte. Und doch entsprach es der Wahrheit, einer, mit der Noah zu leben versuchte, es aber nicht auf die Kette brachte. Konnte man es ihm verübeln? Die ganze Zeit über hatte er auf Durchzug geschaltet. Eigentlich war er verpflichtet dazu zuzuhören. Ihretwegen. Der Person zuliebe, welche er noch vor zwei Wochen besoffen von einer Party abholte, weil sie sich erneut abgeschossen hatte. Die, die jeden Tag am Frühstückstisch verweilte und von einer neuen Diät predigte von welcher niemand hören wollte. Es war bis vor kurzem noch ein stinknormales Familienleben. Und dann passierte ... das. Das. Noah wollte nicht mehr daran denken. Es reichte völlig aus, dass er tagtäglich davon träumte, wenn er denn einmal Schlaf fand. Ihm war schlecht, ihm war eigentlich nach Kotzen. Je länger er auf seine jüngere Schwester schaute, desto glasiger wurden seine Augen. Nicht heulen. Nicht hier. Nicht vor allen. Hatte er überhaupt das Recht zu weinen wenn sich direkt neben ihm die Familie des Opfers befand? Die ganze Zeit über hatte er sich nicht einmal getraut in deren Richtung zu schielen. Auch wenn er unschuldig war, alleine die Verwandtschaft zu Teagan ließ ihn denken, er wäre selbst ein Verbrecher. Es machte ihn keineswegs zu einem schlechten Menschen, wenn er im Hier und Jetzt in Tränen ausbrechen würde. Denn beide Seiten verloren sozusagen einen Menschen den sie bedingungslos liebten. Und doch war es kaum vergleichbar. Eine entschied sich diesen Weg einzuschlagen, die andere Person hingegen nicht. Man kann davon ausgehen, dass Noah seine Schwester wiedersehen wird. Doch bei der anderen Familie war dies nicht der Fall. Alleine von diesem Gedanken wurde ihm schlecht. Wie konnte er nur? „Herr Schwartz. Sie hatten einen Text vorbereitet", der Richter mittleren Alters erhob das Wort, für einen Moment fühlte es sich so an, als wäre der Raum farblos. Das Papier war bereits völlig feucht, die Hände schwitzten bestialisch. Ja, er war Herr Schwartz und doch reagierte er überaus zeitversetzt, als litt er unter einem Trancezustand. „Ja", die Antwort war kurz und knapp, er konnte nicht vor all diesen Fremden sprechen. Seine Stimme klang wie die eines Kettenrauchers, doch dies legte sich nach einem - wenn auch leisen - Räuspern wieder.
Mein Name lautet Noah Schwartz. Ich bin ... Teagans Bruder. Großer Bruder. Eigentlich sind wir Zwillinge, doch ich kam ungefähr 15 Minuten eher zur Welt. Es ist eigentlich meine Pflicht als Vorbild zu fungieren, um sicherzustellen, dass ... meiner kleinen Schwester nichts zustößt. Ich ...", okay, da brach es auch schon zusammen. Die To-Do-Liste an welche er sich verzweifelt halten wollte. Der verzweifelte Blick wanderte zu Teagan, die Augen waren unnatürlich weit aufgerissen, aufgrund des künstlichen Lichts waren die Tränen umso erkennbarer. Scheiß drauf, er wollte niemandes Mitleid. Als Familie einer Mörderin waren sie doch sowieso nur darauf ausgelegt, als Futter der Medien zu fungieren. Von wegen Vorbilder. Er war nie eins, seine Schwester sollte auch keines sein. Man sollte nur für sich leben und nicht für andere, denn heutzutage wurde man sowieso von jedem nach Strich und Faden verarscht. Kein Wunder, warum er niemandem mehr vertraute. Nun war es nur eine Person weniger. Damit musste er leben. „Du sitzt da und schweigst. Als könntest du keiner Fliege auch nur einen Flügel krümmen. Teagan ...", langsam faltete er das Papier zusammen, der eigentliche Plan etwas vorzulesen wurde gerade eben verworfen. Danach krallten sich seine Finger am Pult fest, die Knie wurden weich und Noah eigentlich noch blasser als zuvor schon. Das packte er nicht. „Weißt du in was für eine Scheiße du uns reingeritten hast?", es war die einzige Chance heute das letzte Mal von Angesicht zu Angesicht mit Teagan zu sprechen. Die letzten Tage waren die reinste Katastrophe. „Ich seh Mama jeden Tag weinen. Wir haben Freunde verloren. Und jedes Mal wenn ich zur Uni laufe, verfolgen mich diese verfickten Journalisten mit ihren dutzend Kameras. Die lauern bereits vor unserer Haustür", er blinzelte nicht, was dafür sorgte, dass die Tränen ungebremst seine Wangen hinunterlaufen konnten. „Diese Woche haben Fremde dreimal unsere Fenster mit Steinen eingeworfen. Papas Auto ist zerkratzt und die Reifen zerstochen. Außerdem ist er wieder krank geworden, deshalb ist er heute nicht hier", mit dem Unterarm wischte er sich beiläufig über das Gesicht. „War es dir das wert, Teagan?", Lächeln unter Tränen. „Na los. Antworte. Ich verbiete dir nicht den Mund. Denn ich will eine verdammte Antwort darauf warum du dich dazu entschieden hast, gleich zwei Familien in den Abgrund zu treiben", es war das erste Mal, dass Noah so viel sprach. Auch das erste Mal, dass er seine Stimme so bedrohlich erhob. „Ich denke das reicht fürs Erste. Ich verstehe Sie, Herr Schwartz", der Richter unterbrach ihn. Doch er war nicht einmal ansatzweise am Ende. Er wollte Teagan schütteln, bis sie endlich aus ihrem gespielten Wachkoma erwachte. Endlich mit dem wahren Grund ihres Verbrechens rausrückte. Dass sie psychisch labil war, schien kein Geheimnis zu sein. Ihre psychologische Akte bewies bereits zu genüge, dass ihr Verstand gebrochen war. Doch warum? Menschen die krank waren, waren nicht automatisch schlechte Personen. Noah, der bereits zuvor unter Depressionen litt, traute sich seither noch weniger, überhaupt ein Wort darüber zu verlieren. Dieses verdammte Stigma, was sie partout nicht abschütteln konnten. „Entschuldigen Sie, ich bin entgleist", natürlich war es nicht nötig um Verzeihung zu bitten. Die Augen der Fremden durchbohrten ihn bereits eh schon. Am liebsten wollte seine Seele sogleich seinen Körper verlassen, sich nicht mehr von all dem konfrontieren lassen, was sich gerade im Hier und Jetzt abspielte. So schlich Noah mit unsicherem Schritt zurück zu seiner Familie, besser gesagt zu seiner Mutter. Die gab keinen Mucks von sich, saß dort mit ihrem strengen Pferdeschwanz und dem müden Blick. Die Augen sichtlich errötet von all dem emotionalen Ballast, der auf ihren Schultern lag. In den Händen zupfte sie nervös ein vollgeschnupftes Taschentuch, die vereinzelten Schnipsel fielen hinab auf den aalglatten Boden. Danach trat sie mit ihren Stiefeln hinauf und schob es hinter sich. So, als wolle sie mit dem Dreck nichts am Hut haben. Noah umgriff ihre Hand, lächelte dabei aber nicht, blickte sie auch weiterhin nicht an. Sie zitterte und er umfasste sie einfach fester. Da mussten sie beide durch. Wie konnten sich Stunden wie Tage anfühlen?
Jedes Mal, sobald Noah seine Augen schloss, fühlte er sich hin- und hergerissen. Beide seiner Hände umgriffen seine Schwester Teagan, doch dann ragte ein Schatten hinter ihm hervor, der ihn versuchte zu verschlucken. Aufgrund der zahlreichen Gerichtstermine besaß er bereits Vorstellungen zum etwaigen Verbrechen, er hatte all die Bilder gesehen, den Zeugen gehorcht und immerzu auf eine Reaktion seiner Schwester gehofft. Sie wirkte so … fort. So weit weg von all dem, was um sie herum geschah. Noah wollte sie an den Schultern packen, kräftig durchschütteln und irgendwie wollte er sie sogar zurück in die Realität ohrfeigen. Er wünschte sich, dass sie sich mit allen Mitteln wehrte. All die Anschuldigungen von sich abwies und erläutert, dass es sich um einen Irrtum handelte. Ja, dies waren Noahs surreale Wunschvorstellungen. Selbstverständlich besaß er im Hinterkopf, dass sie Alles im Allem schuldig war. Doch Menschen funktionierten in Stresssituationen sowieso nicht richtig. War es eigennützig, nur an die eigene Familie zu denken? War das gerecht? „Noah, alles in Ordnung?“, er zuckte sichtlich zusammen, sein hängengelassener Kopf richtete sich auf, die leeren Augen seiner Mutter blickten ihm entgegen, sie schien besorgt zu sein. Eine kühle Brise jagte seinen Rücken hinauf, er blickte komplett an seiner Mutter vorbei auf sämtliche Journalisten, die fleißig ihre Bilder knipsten. Mit jedem weiteren Blitzlicht, flatterten die Augenlider panisch. Wo war er gerade? Konfus griff er die Hand fester, die in seiner lag. Tatsächlich war er so in Gedanken versunken, dass er nicht einmal registrierte, dass eine weitere Sitzung nun vorüber war. Sein Körper funktionierte weiter, doch sein Inneres suchte nach Antworten. Noah fühlte sich in dem Moment wie seine Zwillingsschwester. „Ja, ich … hab nachgedacht. Lass uns nach Hause“, seine Stimme besaß einen konfusen Unterton, die Pupillen wussten nicht genau, welchen Punkt sie fixieren sollten. Als er dann auf einen willkürlichen Punkt starrte, wirkte er noch verlorener als sonst schon. „Und zwar schnell“, das Klicken der Kameras endete nicht. Doch Noah und seine Mutter fanden ihren Weg in den alten BMW. Nachdem beide im Auto saßen, herrschte Stille. Und auch wenn Noah sich gerade fühlte, wie von einem fremden Planeten, fuhr er.
Während der Fahrt musste er sich eingestehen, dass es absolut nicht gerecht war, dass er noch immer gnadenlos an der Unschuld von Teagan festhing. Ihm war klar, dass er, sobald er realistisch wurde, in eine tiefe Grube fiel. So tief, dass er nicht ahnen konnte, was unten auf ihn lauerte. Doch das Bauchgefühl signalisierte ihm bereits, dass es nicht schön war. Als sie durch einen Tunnel fuhren, wurde die Atmosphäre dunkel, lediglich die Scheinwerfer passierender Autos spendete für kurze Augenblicke Licht. „Sie ist nicht unschuldig“, er konzentrierte sich auf die Fahrbahn, schließlich konnte er bei der Dunkelheit im Tunnel sowieso nur alle paar Sekunden die Gesichtszüge seiner Mutter erkennen. „Ich weiß“, die Antwort kam schnell. So schnell, dass sich Noah doch dabei erwischte, wie er in ihre Richtung schielte. Die Scheinwerfer offenbarten die glänzenden Tränen, die ihr Gesicht ungebremst hinunterliefen. Doch ohne Regung und Schluchzen blickte sie wie ihr Sohn starr geradeaus. „Sie hassen uns alle. Sie hassen mich, weil ich eine Mörderin auf die Welt gebracht habe. Sie hassen mich dafür, dass ich ihre Taten verleugne“, nein, sag so etwas nicht. In Noahs Hals bildete sich ein Kloß. Er wollte schreien, doch er wusste nicht was. Stattdessen betätigte er die Warnblinkanlage und drosselte die Geschwindigkeit. Je langsamer sie wurden, desto schneller preschten die anderen Verkehrsteilnehmer an ihnen vorbei. Einige hupten sogar, völlig aus der Acht lassend, dass sie die Warnblinkanlage anhatten. Irgendwann sah er sogar einen Seitenstreifen und entschied sich dort zu halten.

Warum hältst du?“, in der Dunkelheit drehte sie nun ihren Kopf von ihm weg, doch ihm war glasklar, dass sie versuchte ihre Emotionen vor ihm zu verschleiern. Er fragte nicht weiter nach. „Es ist nichts verwerflich daran, eine Person in Schutz zu nehmen. Schon gar nicht, wenn es sich dabei um jemanden handelt, den du 24 Jahre kennst. Du hast Teagan zur Welt gebracht, sie in deinen Armen gehalten, ihr alles ermöglicht, was in deiner Macht stand. Selbstverständlich hast du dies auch mit mir getan. Du hast das getan, was man von einer Mutter erwartet. Du kannst nicht in die Zukunft sehen, du kannst von 0 auf 100 nicht aufhören jemanden zu lieben, egal, wozu diese Person imstande war. Es ist die Aufgabe einer Mutter, ihre Kinder zu schützen“, redete er auf sie ein. Ihre Hände wanderten zu ihrem Gesicht, die Finger fuhren über ihre feuchten Augen und anschließend schluchzte sie. Nachdem Noah den Motor des stehenden Autos ausschaltete, beugte er sich leicht in ihre Richtung. „Natürlich hasst uns die Familie des Toten. Das versuche ich nicht zu verleugnen und schönzureden. Das ist leider einfach so. Wir beide, also unsere Familie und die des Opfers durchleben gerade Zeiten, in welche man sich nur schwer reindenken kann. Würde mich auch wundern, wenn man sofort wüsste was Richtig und Falsch ist. Ich werde an Teagan glauben, nichtsdestotrotz ist und bleibt sie meine Zwillingsschwester. Ebenso wie sie deine Tochter bleibt. Aber ich muss mir eingestehen, dass sie unsagbare Dinge getan hat. Ich muss im Angesicht dessen lernen zu vergessen. Vergeben kann ich es ihr nicht. Keine Ahnung, wie lange sie im Gefängnis sein wird, aber ich muss mit dir weiterleben“, gerade wenn man bedachte, dass die Familiensituation vor dem Schicksalsschlag bereits schwere Zeiten durchleben musste. Gerade in diesem Moment mussten sie stärker zusammenhalten denn je.
Akeem
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Kurzgeschichten-Wettbewerb - Gerechtigkeit Empty Re: Kurzgeschichten-Wettbewerb - Gerechtigkeit

28.02.22 19:14
Wie finde ich Gerechtigkeit?


"Ich fühle mich... leer" sprach sie ruhig mit dem Blick aus dem Fenster gerichtet. Ihre früher so glänzenden Augen waren trist und farblos. "Es ist jetzt drei Tage her, dass ich das letzte mal geweint habe. Kaum zu glauben, oder?" Es war kurz still, bis die Ärztin das Wort ergriff. 
"Was hat sich geändert?"
"Hmm... Wussten sie, dass ein Mensch wirklich viel weinen kann? Selbst wenn man glaubt, dass man sämtliche Tränen im Körper losgeworden sei, es kommen immer wieder neue. Egal wann, egal wo. Es hat nicht aufgehört. Irgendwann war ich selbst überrascht davon, wie viele Tränen eine Frau vergießen kann. Menschen sind nicht dafür gemacht bei jedem Atemzug zu weinen."
"Tränen sind menschlich. Und es ist vollkommen in Ordnung in schweren Zeiten auch viel zu weinen. Zu unseren letzten Sitzungen kamen Sie meistens mit geröteten Augen her, aber wie Sie wissen ist das nichts wofür man sich schämen bräuchte. Ich wiederhole meine Frage von grade. Was glauben Sie hat sich verändert, dass Sie die letzten Tage nicht geweint haben?"
Die Frau auf dem Sessel zuckte nichtssagend mit den Schultern und sah die Ärztin noch immer nicht an. "Ich habe erkannt, dass es sinnlos ist. Wozu verschwende ich meine Kraft und Energie damit, zu weinen bis ich fast ersticke? ...Das bringt meine Kleine auch nicht wieder zurück." 
Erneut machte sich eine Stille in dem Raum breit, die die Ärztin dazu nutze die Frau gegenüber zu mustern. Sie hatte sich verändert, wirkte abwesend im Vergleich zu ihrem letzten Treffen. Gefasst, aber in sich gekehrt. Noch war es unklar was dieses Verhalten ausgelöst hatte und ob man es als einen Schritt in die richtige Richtung werten konnte oder nicht. 
"Ich habe die letzten Tage viel nachgedacht."
"Und worüber haben Sie nachgedacht?" 
"Über die Tat. Die letzten Wochen. Und wie es nun weitergehen soll. Wie ich weiter machen soll."
Die Ärztin erinnerte sich daran, wie ihre Patientin zum ersten Mal davon sprach, was damals geschehen war. Natürlich hatte sie die Zeitungsartikel gelesen, die Nachrichten gesehen und die Gespräche auf den Straßen gehört. Doch als die Mutter ihr davon erzählt hatte mit all ihrem Schmerz und ihrer Trauer, da hatte selbst sie mit den Tränen zu kämpfen gehabt. Der Missbrauch und die Ermordung eines kleinen Mädchens - eine Tat, die Entsetzen bei jedem Bewohner der Kleinstadt ausgelöst hatte. Etwas, mit dem man selbst als jemand, der nicht davon betroffen war, nachts zu kämpfen hatte. 
"Erzählen Sie mir von ihren Gedanken." forderte die Ärztin die Mutter auf. 
"Glauben Sie an Gerechtigkeit?" stellte die junge Frau die Frage. Jetzt wandte sie ihren Blick ab und sah ihrer Gegenüber genau in die Augen. Bei ihrem eisernen und kalten Blick erschauderte die Ärztin innerlich. Bevor sie antworten konnte sprach die junge Frau weiter. 
"Ich habe immer daran geglaubt. Daran, dass guten Menschen Gutes widerfahren wird und andersherum. Doch jetzt fällt es mir schwer an so etwas zu glauben. Wie könnte ich auch? Ich meine... In welcher Welt ist es gerecht, dass einem kleinen, unschuldigem Mädchen etwas so Furchtbares geschieht? Mit welcher Begründung soll ein Kind so etwas verdient haben?" 
Als die Frau schwieg öffnete die Ärztin ihren Mund, um etwas zu sagen. Doch bevor sie dazu kam atmete ihr Gegenüber einmal tief durch und ergriff wieder das Wort.
"Ich habe mich gefragt, was wohl eine gerechte Strafe für den Täter wäre. Ich habe immer in unser Rechtssystem vertraut, doch jetzt wünschte ich mir dass es die Todesstrafe noch geben würde. Etwas anderes hat dieser Mann doch nicht verdient. Andererseits behauptet man auch, dass niemand den Tod verdient hätte. Also, was hat er anderes verdient? Auge um Auge? Sollte man nach diesem Motto vorgehen? Sollte man seiner Tochter diese Grausamkeit antun? Doch wieso soll die Kleine das verdient haben? Oder die Mutter des Kindes? Wieso sollten sie leiden für die Taten ihres Vaters und Mannes? Gegenüber des Täters wäre es vielleicht irgendwie gerecht, doch dann man zieht wieder andere, unschuldige Menschen mit rein die nichts damit zu tun haben. Wenn es etwas wie Karma wirklich geben sollte, dann verstehe ich nicht wieso das überhaupt passiert ist. Was soll meine kleine Tochter auch Schlimmes getan haben, um so etwas verdient zu haben? Also wird es in der Hinsicht auch keine Gerechtigkeit geben. Und an Gott glaube ich auch nicht. Würde es einen Gott geben, dann hätte er das verhindert. Dann hätte er meine Kleine beschützt, dann wäre er an ihrer Seite gewesen und hätte sie vor dem Schicksal bewahrt. Aber dem ist nicht so. Also glaube ich auch nicht, dass dieser Mann in der Hölle schmoren wird, weil es keine Hölle gibt. Also... Können Sie mir sagen in welcher Art und Weise wir Gerechtigkeit erfahren sollen? Denn... ich weiß es nicht. Und ich weiß nicht wie ich mit dieser Ungerechtigkeit weiter leben soll."
Die Frau wandte den Blick wieder ab, sah auf ihre Hände die sie auf ihren Beinen liegend gefaltet hatte. Bei der Ärztin klangen nun die Alarmglocken nach dem letzten Satz ihrer Patientin. Das, was sie ihr eben erzählt hatte, war nichts Neues. Immer wieder hatte sie Patienten, die sich über die Ungerechtigkeit in der Welt aufregten, die sich immer wieder die Frage stellten wieso manche Dinge geschahen und wieso nicht. Und bisher hatte sie keine Antwort dafür gehabt. Weil es keine Antwort gab. Es gab das Böse in der Welt und leider geschahen auch böse Dinge guten Menschen, die nichts dafür konnten. So war es nun mal. Und damit musste man leben. Doch davon sollte man sich auch nicht unterkriegen lassen oder sein ganzes Leben oder gar die ganze Welt in Frage stellen. Es war schwer vorstellbar, dass jemand glücklich leben konnte, der sich einzig und allein mit dieser Thematik beschäftigte.
"Haben Sie darüber nachgedacht sich etwas anzutun?" 
Die Mutter hob wieder ihren Blick. "Natürlich habe ich das. Besonders am Anfang. Ich habe gedacht... wie soll ich in einer Welt leben, in der meine Tochter nicht mehr lebt? Wie kann ich jemals wieder den Blick nach vorne richten, glücklich sein, nachdem was geschehen ist... Wäre es fair, wenn ich mein Leben einfach glücklich und in Frieden weiter lebe? Wäre das vielleicht gerecht?... Andererseits... hätte sie das nicht gewollt. Und man kann wohl kaum von Gerechtigkeit sprechen wenn nach einer Tragödie gleich die nächste folgt, oder nicht?" Die Mutter atmete einmal tief ein. "Ich kann diesem Mann niemals vergeben, dass er mir meine kleine Tochter genommen hat. Aber ich möchte weiterleben. Für sie. Falls es doch einen Himmel geben sollte und sie mich jetzt sehen kann... wie könnte sie in Frieden ruhen wenn ihre Mutter so am leiden ist? Ich möchte versuchen, nach vorne zu sehen. Auch wenn es mir aktuell fast unmöglich scheint. Aber ich habe keine andere Wahl. Das schulde ich ihr." 
Nach den Worten ihrer Patientin beruhigte sich die Ärztin wieder. Auch wenn ihre Worte vielversprechend klangen, war ihr bewusst dass es noch ein weiter Weg bis dahin war. Und das er nicht einfach war. Aber genau dafür war sie da. Um sie bei ihrem Weg zu begleiten und zu unterstützen. Ein sanftes Lächeln legte sich auf die Lippen der Ärztin.

 "Gut. Das ist ein Schritt nach vorne."
Akeem
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Kurzgeschichten-Wettbewerb - Gerechtigkeit Empty Re: Kurzgeschichten-Wettbewerb - Gerechtigkeit

06.03.22 20:58
Ihr habt abgestimmt und so sieht das Ergebnis aus:

  1. Die Hand, die dich verfehlte von @paranoidandroid mit 4 Stimmen
  2. Was wir haben von @Blackeve und Wie finde ich Gerechtigkeit? von @Kohana mit je 2 Stimmen


Glückwunsch an alle Gewinner.
Reviews & Abzeichen folgen sobald sie fertig sind.


Wie hat euch der Wettbewerb gefallen? Welches Thema wollt ihr als nächstes?
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Kurzgeschichten-Wettbewerb - Gerechtigkeit Empty Re: Kurzgeschichten-Wettbewerb - Gerechtigkeit

06.03.22 23:16
Review zu “Was wir haben”


In dieser Geschichte widmet sich der “kosmischen Gerechtigkeit”, in dem es in einer kurzen Szene skizziert, wie eine Mutter mit dem frühzeitigen Tod ihres Mannes umgeht. Bei Schicksalsschlägen wie diesen, fragt man sich als Betroffene oft, warum ihnen dies passiert. Es entsteht das Gefühl der Ungerechtigkeit, weil durch externe Gegebenheiten das eigene Leben zum Schlechteren verändert wurde. 
In genau so einer Situation befindet sich die Protagonistin dieser Geschichte. Ihr Mann stirbt durch einen nicht näher definierten Umstand frühzeitig und überraschend, wodurch sie mit ihrem Sohn zurückbleibt. Der Tod wird nicht näher beschrieben und auch was für ein Mensch der Mann war, bleibt offen, weswegen hier jeder Leser eine eigene Interpretation mitbringen muss. Für mich liest es sich jedoch so, als wäre es ohne fremdes Verschulden passiert, sonst würde die Gefühlswelt der Mutter vermutlich anders aussehen und mehr von Wut als von Trauer geprägt sein. Auf mich wirkt die Protagonistin viel zu resigniert, als dass jemand anderes Schuld an dem Tod ihres Mannes gewesen sein könnte. 
Es ist die Sinnlosigkeit seines Todes, welche die Tragik ausmacht. Sie gibt dem Universum oder Gott die Schuld und nicht einem irdischen Wesen. Sie fragt sich, warum es dazu kommen musste und vor allem, wie sie es nun alleine schaffen soll. Doch dann findet sie ein paar Zeilen ihres Mannes, welcher ihr quasi aus dem Jenseits mitteilt, was sie wissen musste: Lebe nicht in der Vergangenheit und auch wenn die Gegenwart schlimm ist, die Zukunft könnte hell leuchten. Dann tröstet sie ihr Sohn (die Zukunft) und gibt seinen egoistisch, kindischen Aufstand auf, um seine Mutter zu trösten. Vielleicht ist die Zukunft hell und die Gegenwart zumindest heller als die Vergangenheit.
Zumindest ist dies meine Interpretation. Ich muss zugeben, dass ich völlig falsch liegen könnte, viel gibt es hier nämlich nicht zu entdecken. Der Text ist sehr kurz und bietet seinen Charakteren wenig Raum. Sie bleiben alle sehr blaß und bis auf ein paar Stichpunkte, erfahren wir kaum etwas über sie. Auch wenn es hier eindeutig nur um das Gefühl geht, das beim Leser hervorgerufen werden soll, hätte ich dennoch gerne mehr erfahren. Wie zum Beispiel ist der Vater gestorben? War es wirklich eine Krankheit oder ein tragischer Unfall? 
Neben den Charakteren, hat die Kürze des Textes auch Auswirkungen auf den erzählerischen und stilistischen Aspekt der Geschichte.  So sind die ersten Absätze ein wenig kompliziert geschrieben und schwer zu verstehen (durch Wortauslassungen?). Hier hätte vermutlich ein erneutes durchlesen geholfen, um diese Stilfehler zu entdecken. Ich kann bei solchen Problemen nur empfehlen, die Hilfe anderer in Anspruch zu nehmen und sich einen Beta-Leser zu suchen.
Des Weiteren werden bereits zu Beginn der Geschichte  alle Fakten innerhalb von zwei Sätzen präsentiert: Die Protagonistin hat ihre Arbeit verloren, ihr Mann ist vor zwei Jahren gestorben, sie ist überfordert und sowieso ist das alles sehr ungerecht. Dies ist bereits die Zusammenfassung der gesamten Geschichte und liest sich auch genauso. Man könnte hier also genau genommen schon aufhören zu lesen. Das schmälert für mich das Vergnügen, den Rest der Geschichte zu lesen. Was mich am Ball hält ist es, solche Fakten nach und nach zu entdecken. In Prosa steht für mich der Informationsgewinn nicht an erster Stelle, sondern die Heranführung an diese. “Der Weg ist das Ziel”. Die Aufgabe des Autors ist es für mich, dass er bei mir Lesehunger auslöst, in dem er mich mit kleinen Häppchen anfüttert, um mir Appetit auf den Hauptgang zu machen. Diese Spannung entsteht dann, wenn ich Informationen nach und nach erhalte, vielleicht Hinweise für Zusammenhänge erhalte, die ich das eigenständig zu einem Bild zusammensetzen kann. 
Akeem
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Kurzgeschichten-Wettbewerb - Gerechtigkeit Empty Re: Kurzgeschichten-Wettbewerb - Gerechtigkeit

06.03.22 23:16
Review zu “Die Hand, die dich verfehlte”


Als Gesellschaft haben wir uns Regeln (Gesetze) auferlegt, unter denen wir leben. Ziel dieser Regeln ist in erste Linie, ein friedliches Zusammenleben aller Menschen in der Gesellschaft sicherzustellen. Deswegen  regelt die Gesellschaft alle Umstände, die eventuell zu (gewaltsamen) Streitigkeiten führen könnte. Darunter fällt natürlich Regelungen zum Eigentum (sehr wichtig), aber auch ganz einfache Regeln, die das nehmen eines Lebens untersagen.
Diese Regeln sind essentiell für unseren Gerechtigkeitsbegriff. Bei (vermeintlichen) Brüchen werden sie deswegen vor Gelehrten dieser Regeln verhandelt. Jeder Regelbruch führt zu einer Konsequenz (zu einer Strafe). Der Ort, an dem diese Regelbrüche verhandelt werden, ist das Gericht, in dem der Großteil dieser Geschichte spielt.
Aber nicht alle Regeln, die wir in einer Gesellschaft haben, werden dort verhandelt, denn nicht alles ist Gesetz. Über die festgeschriebenen Regeln im Gesetzbuch hinaus, gibt es moralische und ideologische Regeln, die in einer Gesellschaft existieren. Diese sind jedoch nicht festgeschrieben und technisch gesehen hat kein, in der Gesellschaft lebendes, Individuum ihnen explizit zugestimmt. Sie sind also unbestimmt, unscharf, unklar. Diese Umgangsformen können für eine Person selbstverständlich sein, für eine andere jedoch nicht. Genau diese Fragen behandelt diese Geschichte.
Es beginnt in einem Gerichtssaal. Der Leser bekommt grob den Regelbruch erläutert, auch wenn die Details noch schwammig sind: Jemand wurde ermordet und die Mörderin soll die Schwester des Protagonisten sein. 
Nach und nach füllt der Protagonist die Lücken und hält schließlich eine Rede im Gerichtssaal, in dem er seiner Schwester vorwirft, das Leben aller Mitglieder ihrer Familie zerstört zu haben. Später erleben wir dann, was er damit meinte: Die Presse berichtet ausführlich über den Fall, bedrängt die Familie und scheint so einen Mob aufzuscheuchen, der die Familie bedroht und teilweise ihr Eigentum beschäftigt. Sie fühlen sich bedroht. Dabei können sie gar nichts für die Taten seiner Schwester.
Der Protagonist verwendet seine gesamte Redezeit darauf, seine Schwester nur mehr und mehr zu belasten. Über die Tat an sich erfährt man leider nicht mehr. Es ist absichtlich offen gehalten, warum die Schwester diese Tat begangen hat und nimmt dem Leser so die Möglichkeit, selbst eine wirkliche Meinung zu der Tat zu entwickeln. Hier liegt aber auch nicht der Fokus der Geschichte, denn der liegt eindeutig mehr auf der Frage: Ist es gerecht, dass die Gesellschaft die Familie der Mörderin mit verurteilt?
Dazu gibt es keine klare Regel. Es gibt kein Gesetz, das verbietet eine Mörderin heranzuziehen. Die Gesellschaft kann genauso jedoch auch nicht bestrafen, wer deswegen schlecht über diese Familie denkt und sie ausgrenzt. Es gibt kein Gesetz gegen die gesellschaftliche Ausgrenzung der Familie. Es gibt zwar eins gegen die Sachbeschädigungen und die Drohungen, jedoch gegen die Ausgrenzung nicht.
Diese Unklarheit führt bei der Mutter zu einer Sinnkrise. Sie wollte keine Mörderin heranziehen und eigentlich glaubt sie auch nicht, dass sie das getan hat. Dieser Mensch, über dessen Tat im Gerichtssaal verhandelt wird, ist für sie nicht derselbe Mensch, den sie herangezogen hat. Sie versteht nicht, wieso die Gesellschaft, das nicht auch so sieht und versteht deswegen auch nicht, wieso die Gesellschaft sie hasst. Der Protagonist gibt zum Schluss dann den entscheidenden Hinweis, den die Autorin uns mitgeben möchte: Es ist eine Frage der Perspektive.
Durch die gesellschaftliche Unklarheit, in der es keine Norm gibt, kommt es auf die Perspektive an, mit der man selbst dem Sachverhalt gegenübersteht. Die Medien sehen eine Mutter, die eine Regelbrecherin verteidigt, während die Mutter das verwirrte Kind sieht, das sie aufgezogen hat. Das sind die zwei extremen Perspektiven, die in dieser Geschichte geschildert werden, aber es gibt auch weitere Perspektiven, die dazwischen liegen. Der Protagonist selbst hat schließlich auch eine differenzierte Perspektive. Er verabscheut zwar die Tat und gesteht ein, dass seine Schwester verurteilt gehört, aber dennoch kann er die Zeit, die er mit ihr verbracht hat, in der sie ein anderer Mensch war, nicht vergessen. Er kann beide Perspektiven verstehen und versteht auch, dass die beiden Extreme nicht das Bild der anderen sehen können, weil sie von ihrem Standpunkt aus, den Sachverhalt anders sehen.
Da es keine Regel gibt, kann nicht geurteilt werden, welche Perspektive, die objektiv Richtige ist. Es gibt demnach gar keine objektive Gerechtigkeit, in diesem Fall.
Akeem
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Kurzgeschichten-Wettbewerb - Gerechtigkeit Empty Re: Kurzgeschichten-Wettbewerb - Gerechtigkeit

06.03.22 23:16
Review zu “Wie finde ich Gerechtigkeit?”
In einer Gesellschaft, in der es Regeln und Gesetze gibt, deren Missachtung Konsequenzen mit sich bringt, ist immer die Frage, ob das Maß der Konsequenzen gerecht ist. Es ist schwer eine Tat in ein Verhältnis zu einer Strafe zu setzen. Es gibt viele Aspekte dabei abzuwägen und das Maß der Strafe hängt in erster Linie von den Zielen der Bestrafung ab. 
Alle Strafen sind erst einmal erzieherischer Natur. Das Prinzip der Strafe scheint das Konditionierungsmittel zu sein, auf das wir uns als Menschheit geeinigt haben. Durch negative Anreize wollen wir bestimmte Verhaltensweisen bestrafen, um diese unattraktiver zu machen.  In unserer modernen Welt sind dies oft Geldstrafen, welche den Lebensstil des zu Bestrafenden verschlechtern sollen. Bei Gewalttaten werden darüber hinaus oft Freiheitsstrafen angewendet, um die Gesellschaft zu schützen. Als Daumenregel kann man festhalten: Je höher der Schaden für die Gesellschaft durch eine Tat, desto höher das Strafmaß. 
Aber wer legt fest, welches Maß zu welcher Tat zugeordnet wird? Die Gesellschaft entscheidet darüber im Allgemeinen, aber das heißt nicht, dass alle dabei einer Meinung sind. In einer demokratischen Gesellschaft sind es Mehrheitsentscheidungen, dennoch kann ein pauschales Strafmaß, der die Gesellschaft festgelegt hat, im Einzelfall ungerecht erscheinen.
In dieser Geschichte geht es um solche Fragen. Die Tochter der Protagonisten wurde von ihrem Vater ermordet und sie stellt sich nun die Frage, ob es gerecht ist, dass ihre Tochter tot ist, aber ihr Mörder noch weiter leben darf. Laut der Gesellschaft, in der sie lebt, ist es gerecht, aber sie selbst ist anderer Meinung und wünscht sich, dass auch der Mörder selbst mit dem Tod bestraft wird. Die Protagonisten denkt Gerechtigkeit demnach mehr in “kosmischen” Dimensionen. Wer böses tut, dem soll auch böses widerfahren. Auch die Therapeutin, scheint diesem Gedanken nicht zu widersprechen, ist jedoch nüchternen und weiß, dass dies nicht passieren wird.
Keiner der Charaktere scheint den Standpunkt zu vertreten, das Strafen vor allem der Abschreckung dienen sollen, sondern sehen darin mehr eine Art der Wiedergutmachung, wenn gleich sie aber auch zugeben, dass es so etwas nicht geben kann. Die Sinnkrise der Protagonisten entsteht also dadurch, dass sie Tat und Strafe nicht als gesellschaftliches Konstrukt, sondern kosmische Gerechtigkeit denkt. Die Gesellschaft entscheidet in der Realität jedoch nach eigenen Zielen, welches Strafmaß gerecht ist und so können scheinbar banale Taten, wie das Stehlen eines Apfels, extreme Strafen nach sich ziehen, wie das Abtrennen von Fingern. Warum tut die Gesellschaft das? Um das Eigentumsrecht besonders stark zu schützen und das Stehlen von Eigentum so unattraktiv wie möglich zu machen.
Aber was wenn man die schlimmste, denkbare Tat begangen hat? Der Mord eines Kindes? Was ist dann das Strafmaß, das man anwenden möchte? Die Gesellschaft entscheidet sich manchmal, dass eine solche Person es nicht verdient hat, in der Gesellschaft zu bleiben und sperrt diese Person lebenslang weg. Andere Gesellschaften sperren die Person solange weg, wie sie eine Gefahr darstellt und wieder andere Gesellschaften entscheiden, dass diese Person es nicht mal mehr verdient hat, überhaupt selbst zu leben. Was gerecht ist, entscheidet die jeweilige Gesellschaft. Es ist der gesellschaftliche Konsens, der unter verschiedenen Zielorientierungen (z.B. Moralistsichen), definiert was Gerechtigkeit ist. 
Aber bedeutet das nun, dass die Protagonistin unrecht hat, wenn sie das Strafmaß des Mörders ihrer Tochter anzweifelt und die Welt als Ungerecht bezeichnet? Gewiss nicht. In einer Gesellschaft gibt es viele Meinungen und was genau gerecht oder ungerecht ist, kann immer nur die Definition der derzeitigen Mehrheit innerhalb der Gesellschaft sein. Individuell kann jedes Individuum eine eigene Definition von Gerechtigkeit haben. In dieser Geschichte vertreten beide Charakter den Standpunkt, dass die Strafe ungerecht ist. Sie gehören damit wohl der Minderheit an, trotzdem ist ihr Standpunkt dadurch nicht weniger valide.

Die Protagonistin kommt selbst am Ende zu diesem Schluss. Es ist für sie vielleicht nicht gerecht, aber das bedeutet nicht, dass sie sich selbst dafür auch noch das Leben nehmen muss. Sie wird versuchen, mit dieser gefühlten Ungerechtigkeit zu leben. Sie entschließt sich also am Ende, nicht der Gesellschaft zu entfliehen, sondern akzeptiert, dass es andere Definitionen von Gerechtigkeit geben darf.
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